Liebe Esmeralda

Heute Morgen traf ich die kleine Esmeralda im Zug. Esmeralda war eine meiner Schützlinge in der Kinderkrippe, wo ich mal ein Praktikum gemacht habe. Mir wurde vor Augen geführt, wie viel Zeit seit damals vergangen ist, denn Esmeralda ist jetzt ca. 14 Jahre alt. Erkannt habe ich Esmeralda nur, weil ihre Mutter bei ihr war. Ich habe nicht mit Esmeralda gesprochen – nur mit ihrer Mutter. Trotzdem schreibe ich ihr einen offenen Brief:

Liebe Esmeralda
Mit vierzehn Jahren erwachte bei mir ein Bewusstsein, das man wohl – jetzt mit Distanz betrachtet – als Übertritt ins Erwachsenenalter bezeichnen könnte. An das Jahr, als ich vierzehn Jahre alt war, kann ich mich gut erinnern. Ans Jahr vorher fast nicht. In mir erwachte ein politisches und gesellschaftliches Bewusstsein, ich schärfte meine Meinung und denke mal, dass diese damals erlangte noch immer Gültigkeit hat. Aber auch erwachte in mir die Sehnsucht, die Wünsche und Ziele, die nach wie vor Teil meiner selbst sind. Manchmal, wenn ich zurückdenke an mein gelebtes Leben, dann überkommt mich Wehmut. Nicht, weil ich Dinge bereue oder lieber anders gemacht hätte, nein. Es überkommt mich Wehmut, weil ich viele Momente und Zeiten gerne noch einmal leben würde. Jetzt, da ich etwas Erfahrung habe, weiss ich, dass ich viele Augenblicke nicht geniessen konnte, weil ich mit mir selbst unzufrieden war. Heute weiss ich, dass ich eigentlich keinen Grund hatte, mit mir nicht im Reinen zu sein. Wie schnell man ein verzerrtes Bild von sich selbst hat! Wie schnell man sich hassen lernt! Und wie lange es dauert, bis man sich einigermassen mag.

Liebe Esmeralda, lass dir gesagt sein: Trete hinaus in die Welt, frohen Mutes, sei zuversichtlich, betrachte dich mit Wohlwollen, begegne Menschen mit Vorsicht aber auch mit Offenheit. Sei neugierig! Drehe jeden Stein um. Öffne den Blick und schau ab und zu zum Himmel auf. (Den Himmel betrachten macht glücklich.) Sei gewahr: Wir liegen alle in der Gosse. Manche aber, blicken zu den Sternen auf. Hast du Wünsche, Ziele? Lass dich nicht davon abbringen. Nicht jeder wird Astronaut. (Aber vielleicht ein Schauspieler, der Astronauten spielt.)  Und vor allem: Beweg dich! Tanze. Renne. Sei ausser Atem. Denn dein Körper ist ein wichtiges Gut. Verlieb dich. Immer wieder. Lass dich nicht von den Schmerzen davon abbringen. (Und die Schmerzen – ich mach dir da nichts vor – können tödlich sein.) Küsse! Jeden Tag einmal – mindestens. (Menschen die viel küssen, leben gesund.) Spring nackt in den See und lerne. Vergrössere dein Wissen. Lies. Geh hinaus und trinke und rauche und reise im Kopf. Sei wild und ungezügelt. Sei diszipliniert was deine Ziele anbelangt. Hab Spass und sei gerecht. Sei stark – lass dir aber die Stärke nie ansehen!

Liebe Esmeralda, es gab einen Augenblick in meinem Leben, wo ich plötzlich befreit war von all meinen Ängsten und Vorurteilen gegenüber mir selbst. Er kam ziemlich spät in meinem Leben, aber er kam. Das war vor fast genau einem Jahr, im Dezember. Ich sass – früh am Morgen – in einem Hotelzimmer in einer Schweizer Stadt und blickte auf die verschneiten Bäume. Es war warm im Zimmer und die Kälte draussen, liess mich die Wärme noch deutlicher fühlen. Ich hatte mir das Frühstück aufs Zimmer kommen lassen, trank Kaffee und schminkte mich. Im Fernsehen lief die Liveübertragung von „Jeder Rappen zählt“, ein angenehm belangloses Hintergrundgeräusch. Die Nacht hatte ich mit einem Mann verbracht, den ich nicht kannte, den ich sozusagen aufgelesen hatte, der aber eine sehr angenehme Gesellschaft war. (Und den ich nie wieder sah.)  Ich hatte kaum geschlafen, erst um fünf Uhr morgens, als er mich verliess, schlief ich zwei traumlose Stunden. Ich sass also da, hing den Erinnerungen an die vergangene Nacht nach und wusste plötzlich, dass alles so, wie es ist, eigentlich ziemlich ok ist. Dass es keinen Grund für Klagen, für ein Zerwürfnis mit mir selbst oder Hass gab. Ich war und bin mit mir zufrieden. Natürlich. Es gibt viele Dinge, die ich ändern will. Die ich lernen will. Ich hab Ziele, die ich erreichen möchte. Ich möchte mehr – das ist nicht alles. Aber – und das ist der gewaltige Unterschied – es ist ok, wie ich bin. Ich bin fröhlich und stark. (Mein Vertrauenskollege würde jetzt lächeln.) Ich bin manchmal seltsam schön und sexy. Ich bin spannend und gesegnet mit Kreativität. Ich bin klug und herzlich. Und ich habe viele Fehler. Und das ist gut.

Liebe Esmeralda. Lass dich nicht unterkriegen. Die Welt liegt dir zu Füssen und tritt dich ab und zu mit selbigen. Sei gelassen. Alles wird gut.

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