Karo(line)

Beim Versuch zu verstehen, was mich genau an dir angezogen hat, bin ich untergegangen. Gescheitert sozusagen. Objektiv warst du nie in Kategorien wie „schön“ oder „besonders attraktiv“ einzuordnen. Von aussen betrachtet, hätte man meinen können, es wäre mir ein Leichtes, mich vor dir in Sicherheit zu bringen. Aus der Nähe betrachtet, stellt sich alles freilich etwas anders dar.

Wenn ich an dich denke, dann sehe ich dich, wie du in kurzen Sporthosen – es war wohl Sommer – durch den einen langen Korridor mit dem Linoleumboden unseres Schulhauses rennst. Deine Schuhe quietschen und Deine Beine sind von einer Ebenmässigkeit, als wären sie gezeichnet. Du warst schon damals ziemlich gross und hattest lange Beine. Diese Art Beine, die unmerklich ins Knie übergehen, die das Knie einbetten, die oben wie unten langgezogen wirken, deren Haut eben und in makelloser Einheitsfarbe leicht gebräunt schimmert. Ich weiss noch, dass ich deine Beine nicht mit deinem Gesicht in Einklang bringen konnte. Wie kann man so schöne Beine haben und ein so unwirkliches Gesicht! Ich war früh fasziniert davon, dass schöne Menschen ein unanstrengendes Gesicht haben und weniger Schöne ein eben anstrengendes. Dass es bei attraktiven Menschen einfach ist, sie anzusehen, es bedeutet keinen Aufwand, es ist leicht. Du aber warst nicht leicht anzusehen, in dich musste man sich vertiefen, fallen lassen und man war nie ganz angekommen, immer auf der Suche. Ich erinnere mich also an deine Beine, deine Beine haben mich eingefangen, deine Beine haben mich dazu gebracht, den Aufwand zu betreiben, dich kennenlernen zu wollen.

Trifft man einen Menschen, dem man sich überlegen fühlt, der einen anhimmelt, der einem die Welt zu Füssen legt, so glaubt man fest, dass sich dieses Verhältnis niemals ins Gegenteil verkehren wird. Man ist der absolut unumstösslichen Meinung, dass man sicher ist.

Natürlich irrt man sich. Und wie man sich irrt.

Es war also Sommer, ich war gerade mit meiner übellaunigen, überarbeiteten Mutter in die kleine Stadt gezogen und war einigermassen freudlos eine neue Schule besuchen zu müssen. Mir war klar, dass ich keine Mühe haben würde, neue Freunde zu finden. Das war schon immer so. Ich war zwar nicht besonders gross, hatte jedoch volles, blondes Haar und umwerfend blaue Augen – sozusagen der Inbegriff eines „Surferboys“. Wir schrieben die 80er, ich war wie geboren für dieses Jahrzehnt.

Unsere Geschichte begann mit einem Apfel. Du hast ihn fallen lassen, ich hab ihn aufgehoben. Während ich mich bücke, betrachte ich deine Beine. Beinahe hätte ich mir gewünscht, du mögest ein Duzend Äpfel fallen lassen. Ich strecke dir den Apfel hin, du nimmst ihn entgegen, starrst mich an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, sagst kein Wort, drehst dich um und rennst den langen Korridor unseres Schulhauses entlang, deine Schuhe quietschen auf dem Linoleumboden. Bald schon weiss ich, wie du heisst. Ich sehe, wie du mich anschaust, immer dann, wenn du glaubst, ich bemerke es nicht. In mir wächst diese Befriedigung, dieser Sog, diese Sucht, von dir begehrt zu werden. Ich, der Neue, der Jede hätte haben können, interessiere mich ausschliesslich für dich. Ich verstehe es als Gegenbewegung, als Coolness, als sehr speziell. Ich bin der Überzeugung, ich hätte mich entschieden, dich zu mögen, weil niemand erwartet, dass ich dich mag.

Ich stelle mir vor, wie ich dich anspreche und du voll Verzückung erbebst. Wie deine braunroten Locken tanzen beim Versuch mir zu entfliehen. Wie du glücklich lächelst und die Welt nicht mehr verstehst. Wie dich alle neidvoll ansehen und sich fragen, was ich wohl an dir finde.

In Wahrheit lief es ganz anders ab. Du hast mir den Arsch gerettet und nie ein Wort darüber verloren. Du warst plötzlich da und genau so schnell wieder weg. Ich hätte nicht erbärmlicher sein können in dieser Situation, du hast mich aber nie verpfiffen.

Da war sie also die grosse Liebe. Leider viel zu früh in meinem Leben.

Wie Weihnachten

Wie wirkt es sich auf uns aus, wenn wir in schöner Umgebung aufwachsen oder leben? Oder aber eben in nicht in so schöner Umgebung, wie zum Beispiel in Oberhausen? Tut das etwas mit unserem Denken, mit unserer Psyche? Und wenn ja, in welche Richtung? Kann es sein, dass wenn unsere Umgebung trist ist und traurig, dass das eben gerade das Gegenteil in uns auslöst, dass da die Phantasie und die Farbe im Kopf wächst?

Innenstadt von Oberhausen

Also, nicht, dass ich Oberhausen sehr gut kennen würde. Ich bin sicher, es gibt auch in Oberhausen schöne Ecken. Ich spreche von dieser Art von Innenstädten, die nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden. Hastig vielleicht, ohne Musse für das Verwunschene – gelangweilt, lieblos und fahrig. Diese Innenstädte haben alle etwas düsteres, depressives. Mit Häuserreihen und Ladenzeilen, die sich trostlos ins Nichts erstrecken.

Wenn man dagegen an Orte denkt, wie zum Beispiel Lucca, die bezaubernd sind, die in jeder Ecke funkeln und strahlen, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass sich da das Gemüt von ganz allein etwas beschwingter entfaltet.

Innenstadt von Lucca

Gerade jetzt, wo wir auf die paar Quadratmeter rund um unseren Wohnort zurückgebunden sind, ist es ein sehr grosses Glück, ein paar Meter von seiner Haustüre entfernt eine solche Sicht vorzufinden:

Quaibrücke Zürich

Schönheit ist überall anzutreffen, in kleinen Dingen, wie auch in grossen. Wenn uns aber der Zufall das Geschenk gemacht hat, dass wir die kleinen Dinge vor einer atemberaubender Kulisse entdecken dürfen, ist das wie Weihnachten.

Licht aus!

Jetzt las ich, dass Horrorfilme einen Boom erleben. Die Experten sagen, Horrorfilme seien eine Art Psycho-Training. Indem man sich Angst und Unsicherheit aussetzt, mache man sich angstresistenter. Auch viele Psychologen begrüssen daher den aktuellen Horror-Boom.
(Christoph Zürcher im NZZ am Sonntag Magazin)

Endlich eine schöne Erklärung für meine Splatter-Horror-Literatur-Sucht, die ich seit Anfang Lockdown kultiviere. Ich mache mich bloss fit für die Krise, gegen die Angst.

Die Zwischentöne sind mir abhanden gekommen, die feinen Linien verschwimmen zu fetten Farbklecksen, fliessen ineinander, nehmen eine eigentümlich braune Einheitsbrei-Farbe an. Auf der Suche nach Inspiration begegnet mir so viel Mist und Nonsens, da ist mir die Horror-Literatur ein willkommener Rückzugsort, eine kleine Insel, auf der mir nichts geschieht (den Figuren freilich schon, die werden niedergemetzelt, ich jedoch schneide mich höchstensfalls am Papier beim Umblättern).

Und dann löschen wir das Licht und auch der Einheitsbrei wird grau. Wir ziehen die Decke über die Nase. Aus jeder Fuge klingt die Behaglichkeit – ohrenbetäubend still.

Muse gesucht!

Am Wochenende habe ich jemanden kennengelernt, einen quirligen Lehrer und Künstler, der gerne und lang über sich selbst spricht. Das war aber überraschenderweise nicht unangenehm oder langweilig, da er eine wunderbar unterhaltende Art hatte Geschichten zu erzählen. Er sagte dann, in Bezug auf die Kreativität und das kreative Schaffen: „Get on that chair and get things done!“ Man könne über weite Strecken lange auf den Kuss der Muse warten, die meiste Zeit müsse man seinen inneren Widerstand einfach überwinden und loslegen.

Da heutzutage Küsse gefährlich sind und guter Rat teuer, hab ich beschlossen seiner Empfehlung zu folgen. Gut ist, dass ich gerade freie Tage vor mir liegen habe und somit lange auf dem Stuhl verweilen kann, auf die leere Seite starrend.

Ich sitze also auf einem Stuhl und höre mal wieder Musik. Was ich lange nicht mehr getan habe. Also, das mit der Musik. Auf Stühlen hocke ich dauernd. Ich frage mich, was genau jeweils zuerst kommt. Das Aufhören mit der Musik oder das Aufhören mit den Flausen. Kann ich nur Musik hören, wenn die Flausen tanzen oder tanzen die Flausen nur, wenn ich Musik höre? Das Zweitere wäre eine gewaltige Erkenntnis, da ich somit den Zustand der Kreativität und der Beweglichkeit herbeiführend könnte.

Ich beschliesse mich auch in dieses Experiment zu wagen.

Badana hat mir zum Geburtstag ein Buch geschenkt. „Burn After Writing„. Zeit also, sich mal wieder mit seinem eigenen Arsch zu beschäftigen und nicht nur Horror-Splatter-„Literatur“ zu lesen.

Und falls sich da draussen eine Muse tummelt, der gerade langweilig ist: Einfach ungeniert melden, mässi!

Seite aus „Burn After Writing“ von Sharon Jones

Hamstern

Sommerglas

Ich starre in den absurd blauen Himmel. Mein Balkon ist mit einer eigentümlichen Blütenstaubschicht überzogen, die man beim besten Willen nicht wegkriegt. Es hat seit 42 Tagen nicht mehr geregnet. Die Birke im Garten gegenüber lässt ihre Blätter hängen, wie Schulkinder den Kopf nach einer Standpauke ihrer Lehrerin. Es riecht grüner als früher und die Eiswürfel in meinem Glas klingen wunderlich melodisch.

Der Sommer ist eingezogen und es lässt mich eigenartig kalt. Ist das noch Langeweile oder bereits Stumpfsinn?

Wenn man. Küsse bloss. hamstern könnte.

I've never stopped loving you

It’s now or never

Heute habe ich im Radio ein Interview mit der Virologin Alexandra Trkola gehört, das war sehr interessant, obwohl man ja annehmen könnte, dass man langsam aber sicher genug vom Corona-Virus gehört hat. Gegen Ende des Interviews meint der Moderator lapidar: „So lange die Kur nicht schlimmer ist als die Krankheit…“ Was eine extrem dämlich Aussage ist, da man letztendlich nie sagen kann, ob die Kur schlimmer ist als die Krankheit. In der momentanen Situation sowieso nicht.

So eine Aussage kann nur jemand von sich geben, der nie ernsthaft krank war. Da mir diese Erfahrung leider zuteil wurde, kann ich sagen, dass die Kur immer schlimmer ist als die Krankheit, wenn man den Moment betrachtet. Jedes Medikament – und ich spreche nicht einfach von einer Schmerztablette – ist im Augenblick, in dem man es nimmt, schlimmer als die Krankheit. Denn von der Krankheit selbst, nimmt man in ganz vielen Augenblicken weniger wahr. Die Medikation aber, die spürt man. Und wie man die spürt!

Man stellt sich das immer so einfach vor. Man denkt, man wird krank und dann stirbt man. Der Weg aber, der zwischen dem Beginn der Krankheit und dem Tod liegt, ist ein sehr langer, sehr hässlicher, sehr mühseliger. Er ist zehrend, gespickt mit vielen Nebenwirkungen, viel Leid und viel Schmerz. Und ob „die Kur“ wirklich schlimmer war als die Krankheit selbst, kann man schlussendlich erst ganz am Ende beurteilen. Den ganzen langen Weg über, weiss man es schlichtweg nicht.

Was würdest Du tun? Den Weg gehen, in der Hoffnung, dass Du die Krankheit überwindest? Oder Dich vom ersten Moment ins Messer stürzen?
Du gehst den Weg. Man geht ihn immer.

Dass man den Weg geht, ist gut. Dass man am Anfang des Weges nicht weiss, wie steinig ebendieser ist, ist auch gut. Sonst würde man ihn nicht gehen. Und so ist es mit allen Krisen des Lebens. Überwindet man dann die Krise, ist man ganz erstaunt, dass man sie durchgestanden hat.

Wir werden auch diese Krise überwinden. Das Gute daran ist, dass einem jede Krise und jede Krankheit auf das Wesentliche zurückwirft. Was ist mir wichtig? Wohin gehöre ich? Wen liebe ich? Was wünsche ich mir? Das sind ganz kleine Sachen. Aber wie wir ja wissen: Das Glück liegt in den kleinen Dingen. Und ein bisschen Demut schadet nie.

Seid fröhlich. Seid stark. Seid freundlich. Wir haben nur dieses eine Leben.

It's now or never

Bei mir zu Hause an der Wand: Pop Music Wisdom trifft auf Franz Gertsch.

Ekle Gall und süsse Spezerei

Mein Homeoffice-Tisch hab ich so ausgerichtet, dass ich mein Bücherregal sehen kann. Was lustig ist, da ich immer, wenn ich in Telefonkonferenzen festhänge, die Bücher anschaue und immer mal wieder interessante Lektüre entdecke. Zudem habe ich viele Notizbücher im Regal, wo ich Geschichten wiederfinde, die ich mal angefangen habe zu schreiben. Die sind lustig zu lesen und manchmal recht unterhaltsam. Falls euch gerade langweilig ist, hier der Anfang einer Geschichte:

Ekle Gall und süsse Spezerei

Es gibt Namen, die mag man vom ersten Augenblick an, wenn man sie zum ersten Mal hört. Ich weiss, dass ich bereits als Kind fasziniert war vom Namen David. Menschen, die diesen Namen tragen, mag ich.

Wenn ich heute darüber nachdenke, jetzt wo ich all das weiss, möchte ich hysterisch lachen. Warum nur wurde ich nicht früher eingeweiht? Es war doch alles da, ich hätte bloss Zugang dazu erhalten sollen. Dieser Zugang wurde mir verwehrt.

Was bleibt, ist alles aufzuschreiben, damit jemand in Zukunft nicht dieses grosse Wunder, dieses unfassbare „Ding“ verschwendet. Damit nicht jemand den selben Fehler begeht, begehen muss.

Das Heft

Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Auch nicht an Seelenwanderung oder an Kristalle oder Aurafotografie. Weder an Geister noch an Horoskope. Jede Form der Esoterik oder religiöse Verstiegenheit ist mir fremd. Meine Familie besteht aus herrlich pragmatischen Menschen und ich hätte nie zu einer anderen Familie gehören wollen. Als meine Grosseltern kurz hintereinander starben, haben wir das Haus in grossem Einklang und ohne die üblichen Streitereien in Bezug auf Erbe und Wertgegenstände geräumt. Jeder konnte nehmen was er mochte und wenn zwei das Gleiche mochten, dann wurde gewürfelt. Da ich Bücher liebe, widmete ich mich intensiv der umfangreichen Büchersammlung meiner Grosseltern und nahm viele Bücher mit, so auch alle auffindbaren Handschriften wie Briefe und Hefte. Zu Hause fiel mir ein Heft auf, es war von Aussen relativ unscheinbar, die erste Seite jedoch weckte meine Neugier. Da stand:
„Love is a smoke made with the fume of sighs;
Being purged, a fire sparkling in lovers‘ eyes;
Being vexed, a sea nourished with lovers‘ tears;
What is it else? A madness most discreet,
A choking gall, and a preserving sweet.“

Ich kannte das Zitat sehr gut. Es war ein Zitat aus Romeo und Julia von Shakespeare. Das Spezielle daran war aber, dass das Zitat zu mir gehörte, wie die Faust aufs Auge oder wie der Magnet zum Eisen. Es begegnete mir ständig, verfolgte mich seit frühester Jugend. Ich las es überall, ich konnte es bereits mit 13 Jahren auswendig, obwohl ich damals eher schlecht Englisch sprach. Es tauchte immer und immer wieder auf. Mittlerweile konnte ich nicht mehr sagen, was zuerst war, das Zitat oder meine Aufmerksamkeit dafür. Da stand es also wieder. In einem Heft, das den Anschein machte, als wäre es alt, sehr alt. Ich blätterte darin und entdeckte eine Jahreszahl: 1916. Meine Grossmutter wurde 1922 geboren, mein Grossvater 1912. Es musste sich also um ein Heft aus der Generation meiner Urgrosseltern handeln. Warum also befand sich dieses Zitat auf der ersten Seite? Ich setzte mich mit einem Kaffee auf den Balkon an die Sonne und begann zu lesen. Schon lustig, wie profan die Momente sind, die unser Leben verändern.

„2. Juni 1916. Das ist die Aufzeichnung von Anny Wiederkehr, geboren am 1. November 1898. Ich habe heute David kennengelernt, wie vorbestimmt. Endlich. Wir trafen uns im Park, plötzlich stand er vor mir, mit dem Drachen seiner Nichte in der Hand, ich habe ihn sofort wiedererkannt. Er sah genau so aus, wie beschrieben. Stahlblaue Augen, blondes Haar, einen markanten Kiefer, Grübchen beim Lachen, gleich gross wie ich selbst, aber das wichtigste: Auf seinem Unterarm das Muttermahl. Deutlich wie gemalt. Das Sternbild Bärenhüter.“

Ich liess das Heft sinken, wie vom Donner gerührt. Ich konnte es nicht fassen. Anny Wiederkehr war meine Urgrossmutter. Und diese sogenannten Aufzeichnungen mussten wohl ein dummer Scherz sein. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, wieso. Ich hatte nie jemandem in meiner Familie von David erzählt. Ich hatte ihn zwar sehr geliebt, wir waren aber nie offiziell zusammen. Weshalb sollte jemand ein Heft in eine der zahlreichen Bücherkisten auf dem Dachboden meiner Grosseltern verstecken, der von mir und meiner Liaison mit David wusste? Es wussten nur wenige Leute davon und niemand von denen hatte Zugang zum Haus meiner Grosseltern. Es machte alles keinen Sinn. Wenn dieses Heft also echt war, weshalb beschrieb meine Urgrossmutter einen Mann, dem ich x Jahre später erst begegnen sollte? „Mein“ David, an den ich mich in diesem Moment jäh erinnerte, hatte stahlblaue Augen, blonde Haare, war gleich gross wie ich selbst und das wichtigste: Auf seinem Unterarm befand sich ein Muttermahl, das exakt so aussah wie das Sternbild Bärenhüter…

Die Zeit ist eng geworden

Gerade hänge ich im x-ten Skype Meeting fest. Jemand spricht in meine Ohren, in meinen Kopf, in mein Hirn. Die Grenzen zwischen meinem Daheim und meinem Büro verschwimmen, mein Arbeitsweg vom „Office“ zum Sofa ist genau 18 Schritte lang, ich hab ihn ausgemessen. Gerade überlege ich mir, was ich am nächsten Wochenende unternehmen soll. Puzzle im Bad? Jonglieren in der Küche? Schach im Schlafzimmer? Tanzen im Treppenhaus? Lesen im Flur? Oder vielleicht versuche ich auch etwas ganz abgefahrenes, wie zum Beispiel einen Abenteuerausflug zum Dachboden?

Die kleinen Überraschungen sind sozusagen die Strohhalme, an denen wir uns festklammern. Ich habe eine Zeichnung meines Neffen per Post erhalten. Sie stellt Bahn- und Buslinien dar, die Sehnsucht nach Freiheit glimmt auch in den kleinsten Köpfen.

Was mir an dieser Isolations-Homeoffice-MyHomeIsMyCastle-Gedöns am meisten erstaunt ist, dass ich weniger Zeit für mich selbst habe also vorher. Die Zeit ist eng geworden, die Räume kleiner. Ich weiss gar nicht, wo meine Tage bleiben, ich habe das grosse Bedürfnis mich zu Hause einzuschliessen (oder besser gerade: alles andere auszuschliessen), die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und für mindestens 3 Tage zu schlafen. MINDESTENS. Ich glaub, ich brauch Ferien von der Welt.

Bahn- und Buslinien

Bahn- und Buslinien, Wasserfarbe auf Papier

Bleiben Sie ruhig, bleiben Sie daheim, meiden Sie Aufzüge!

Bleiben Sie ruhig, bleiben Sie daheim, meiden Sie Aufzüge!

Diese Aufforderung hat ein Freund von mir von seinem Headhunter per Mail bekommen. Natürlich eine berechtigte Aufforderung, ins sich aber auch sehr lustig absurd. Gut, wir leben gerade in absurden Zeiten.

Güteraufzug - Mitfahren verboten

Mitfahren verboten

Mein dritter Tag in der Isolation fühlt sich jetzt schon seltsam melassig an. Als wäre man unter Wasser und würde durch ein Sauerstoffgerät atmen. Alles ist verlangsamt und trotzdem ist man seltsam aufgeregt.

Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Versuch zu arbeiten (Ding der Unmöglichkeit, da Netz überlastet), Gesprächen via elektronischer Medien, Radio hören, Artikel lesen, joggen und aufräumen. Abends trinke ich Wein auf der Terrasse oder dem Balkon und habe schon erstaunlich viel Sonne abbekommen.

Badana sagte mir, sie erinnere sich an ein Interview mit einem unschuldigen Isolationsgefangenen, den man gefragt hat, wie er die Zeit überlebt hat und er sagte, dass er sich eine Struktur geschaffen hätte, dass er immer etwas zu tun gehabt hätte, sich immer beschäftigt hat.

Lasst uns also eine Struktur schaffen, kleine Freuden bewahren, uns selber was Gutes tun. Und noch viel wichtiger: Seid nett zueinander, lasst euch von der Angst nicht einkreisen, tragt euch gegenseitig Sorge, seid freundlich. Wir schaffen das.

Ich habe keine Angst, das ist nicht meine Art

Was ich hätte schreiben wollen:

Draussen hat sich der Abend über die Landschaft gelegt und ihr die Farbe genommen. Der Zug, der bis nach Hamburg weiterfahren wird, zeigt auf Bildschirmen die Geschwindigkeit an. 143 km/h. Eine Familie im Abteil neben ihr hat die Wanderschuhe ausgezogen, es riecht nach nassen Socken und ein bisschen nach Sex.

Sie hat den Tag in Chur verbracht, es war seltsam neblig und das obwohl ihr versichert wurde, dass man in Chur keinen Nebel kennt. Der Nebel ist in ihren Kopf gekrochen und hat sich über die Gedanken gelegt.

Sie ist verkatert, die letzte Nacht war lang und wenn sie darüber nachdenkt, bringt sie die Bilder nicht mehr ganz mit dem Gefühl in Einklang.

Der Zug hat in Sargans gehalten, der Bahnhof lag seltsam verlassen da, ein Paar mit Skiern stieg streitend zu.

Sie erhält eine Nachricht von jemandem, an den sie sich kaum erinnert, er scheint angetan von ihr und sie fragt sich, was sie zu ihm gesagt hat. Wahrscheinlich einer ihrer Übersprungsmomente, der seltsame Blüten treibt und eigentlich immer ein kleines, verliebtes Monster gebiert. Sie fragt sich, wie es wäre, wenn sie das steuern könnte. Wenn sie fähig wäre, die Energie zu bündeln und zu kanalisieren. Wenn die Energie nicht immer willkürlich und mit voller Kraft auf irgendjemanden treffen würde. Wenn sie das so kontrollieren könnte und die Energie auf jemanden richten könnte, bei dem es ihr wichtig wäre. Und die Quelle nicht immer des wichtigen Menschen Abwesenheit wäre.

Der Zug hat jetzt den Zürichsee erreicht, die Lichter spiegeln sich im Wasser, dieser Anblick hat schon als Kind Glück in ihr ausgelöst. Heute lichtet sich der Nebel nur kurz, bis er sich wieder in ihrem Kopf ausbreitet, den Hals hinuntersinkt und ihr Herz befällt.

Wo bist du, Weltfrieden, wenn man dich braucht?

Sie setzt sich die Kopfhörer auf und blickt über den schwarzen, kalten See mitten in den Abgrund hinein.

Was ich stattdessen schrieb:

„Man darf im Leben nicht zu intelligent sein. Wenn Sie zu intelligent sind, wenn Sie zu viel nachdenken…“ (Rückkehr nach Birkenau von Ginette Kolinka)

Ich lese das Buch „Rückkehr nach Birkenau“ auf dem Weg zur und von der Arbeit. Es ist sehr dicht, sehr eindringlich. Um nicht zu sagen absolut niederschmetternd. Das nackte Grauen in kleinen, dichten Sätzen. Es hat nur 124 Seiten, die Sprache ist leicht und sehr schön. Man kommt aber nur langsam vorwärts. Nach ein paar Sätzen, füllen sich die Augen mit Wasser – unmöglich weiterzulesen. Man blickt auf und sieht sich die Menschen an. Die da mit einem in der Strassenbahn sitzen oder draussen vorbeigehen. Der Kontrast ist so überwältigend, man würde sich nicht wundern, wenn die Zeit abrupt stehen bleiben würde. Man verlangt sogar danach! Wie kann es sein, dass sich alle nicht wenigstens in Zeitlupe bewegen? Wie kann es sein, dass diese Welt, in der ich leben darf, so absolut atemberaubend schön ist? Warum ich? Dieses Glück habe ich nicht verdient. Dieses Glück ist reiner Zufall und wer weiss, wie lange dieser Zufall noch andauernd wird. Ich möchte alles in mir aufsaugen, dass ich davon zehren kann. Möchte es festhalten, möchte jede einzelne Sekunde geniessen.

Ich lese also, ich weine also zwischen all den Menschen und in mir wächst die Dankbarkeit und die Zuversicht. Als ich erneut aufblicke, sieht mich ein Mann – er wirkt jung und irgendwie gefährlich – durch die Tramscheibe an. Ich blicke zurück, fürchte mich, senke den Blick, hebe ihn wieder und lächle. Ich will gar nicht lächeln, es überkommt mich einfach. Ich lächle und das Lächeln wird zum Lachen. Er schaut mich verwundert an und schenkt mir dann ein umwerfendes Lachen zurück. Mir verschlägt es kurz den Atem ab dieser Geste, ab der Schönheit dieses Augenblicks. Die Tram fährt, ich stehe still.

„Ich habe keine Angst, das ist nicht meine Art.“