Tilleul

Am Brunnen vor dem Thore
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt’ in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde
So manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.

Ich mußt’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab’ ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht. (…)
(Der Lindenbaum von Wilhelm Müller aus Die Winterreise)

Ich lebe ein Blätterteig- oder Zwiebelleben. Feine Schichten, jede anders geartet. Und in den Zeiten im Jahr, in denen die Linden blühn und die ganze Stadt mit dem süssen Duft durchtränkt ist, fühlt meinereiner das ausgeprägter.

Der frühe Morgen ist Entspannung pur, 6 Uhr im Büro und die Sonne geht auf. Kernige Leichtigkeit, ganz Körper, ganz bei mir. Süsse Verführung. Stille und Atmung. Ich bin süchtig danach.

Vormittag, wie schwimmen im Wasser. Aufgehoben sein, fröhlich sein. Der Geist trägt Blüten. Sich davontragen lassen.

Am Mittag lachen, denken, lernen. Das Neue kommt auf leisen Sohlen, behutsam tastet es sich an. Und endet in leisem Glimmen.

Nachmittag. Müdigkeit, Kopfschmerz, Erschöpfung. Dann klares Wasser, Spiegel, Erwachen. Erkannt werden und samtiges Abschiednehmen.

Abends Ausgelassenheit, Freiheit, Verspieltheit und grosse Dankbarkeit.

Viel Liebe.

Die Linden!

Ne me quitte pas

Zwischen zwei Welten habe ich eine Stunde Zeit, bevor ich am Frauenstreik lache, rede, trinke und mich selbst vergesse. Eine schöne blaue Stunde für Musik, schiefe Gedanken und Kaffee.

Ne me quitte pas
Il faut oublier
Tout peut s’oublier
Qui s’enfuit déjà
Oublier le temps
Des malentendus
Et le temps perdu
A savoir comment
Oublier ces heures
Qui tuaient parfois
A coups de pourquoi
Le cœur du bonheur
Ne me quitte pas 
(Jacques Brel)

Ich höre Jacques Brel und versuche etwas zu fühlen. Was ist das? Befindet sich hinter dem Gefühl von Verlust Erleichterung? Ich hoffe nicht. Nach Katertagen sind die Gefühle immer, immer, immer eingefärbt. Und auch wenn man dann, gerade dann, daran denkt hektische Bewegungen zu machen, sollte man es lassen. Nach ein paar Stunden Schlaf sieht die Welt wieder anders aus. Nach ein paar Wochen kaltem Tee aus blanken Gläsern geht die Sonne wieder auf. Darauf freue ich mich jetzt schon. Ich freue mich darauf, wie ein kleines Kind auf Weihnachten. In der Zwischenzeit schicke ich den ganzen Rest dahin, wo der Pfeffer wächst. Happy Frauenstreik!

Tulpen aus Amsterdam

Pfingstrosen

Es gibt so Tage, an denen die schönen Momente so unbedarft erscheinen, kleine alltägliche Glückskekse, wie vielleicht die ersten schweren Tropfen eines Sommergewitters. Meine Tage sind gerade so. Gespickt mit Farbtupfen, wie ein Tulpenmarkt in Amsterdam. Man kehrt um die Ecke und steht vor einem Meer aus Blumen. Man weiss, man hat einen Termin, wo man hin muss, schnell, man ist bereits zu spät, man ist etwas ausser Atem geraten und dann das. Man kann nicht anders, als stehenbleiben und schauen.

Morgen wird es so richtig kalt. Ich fahre an einen Ort nahe der Berge und denke darüber nach meine Winterstiefel und die Daunenjacke einzupacken. Ich freue mich auf die langen Nachmittage auf der Terrasse. Auf das Licht, das sich über die Zeit verändert. An den Schnee, der fallen wird. Wenn der Abend hereinbricht, werden wir die Wolldecke enger um unsere Knie schlingen, die kalten Hände ineinander legen und seufzend den grossen Baum betrachten, der bereits Blätter hat und dessen Blüten seltsam entrückt unter dem Schnee erglühen.

Karotten

You ask “What is life?” That is the same as asking “What is a carrot?” A carrot is a carrot and there’s nothing more to know. 
(Anton Chekhov — Letter to his wife, Olga Knipper Chekhov, 20. April 1904)

Vor mir liegen ein paar Karotten. Es sind mehr als fünf Stück, vielleicht sieben. Es könnten auch acht sein, es ist nicht ganz einfach abzuschätzen. Im Dämmerlicht meiner Küche wirken sie nicht orange, eher braun. Ich frage mich, ob sie süss sind oder bitter. Es sind verhältnismässig kleine Karotten, ich tippe daher auf süss.

Ich möchte Dir von Lysander erzählen, der hat so eine Mauer um sich aufgebaut. Der lässt niemanden wirklich an sich ran. Das erzeugt beim Gegenüber ein seltsames Gefühl, da man sich nie ganz sicher sein kann, da man vermutet, er verberge etwas. So ein gefühlsmässiges Schielen. Ich habe ihn gefragt, warum das so sei, was er denn zu verbergen suche. Er hat mir geantwortet, er würde einfach ungern andere an sich ranlassen, alles von sich zeigen. Er hätte vor einigen Jahren schlechte Erfahrungen gemacht und deshalb wolle er nicht mehr viel von sich preisgeben.
Mit meiner Frage habe ich ihn überrascht, ja, gar überrumpelt. Und plötzlich, durch meine unverhoffte Frage, mit der er so gar nicht gerechnet hat, in diesem Moment sah ich auf seinem Gesicht dieses durchscheinende Glimmen, diese ganz spezielle Form der Trauer, diese erschütternde Beherrschtheit, diese kraftvolle Desillusionierung und dann darunter, nur für eine Sekunde, sah ich die Verletzbarkeit, diese Form der Verwundbarkeit, die von aussergewöhnlicher Anmut ist. Ich habe mich gefragt, ob man es ihm jemals begreiflich machen kann, wie schön, wie gross und wie stark seine Verletzlichkeit ist und wie unnötig seine Abschottung.

Könntest Du Dich durch meine Augen sehen, du wärst aussergewöhnlich mutig. Könntest Du Dich durch meine Augen sehen, Du wärst nie verzagt. Könntest Du Dich durch meine Augen sehen, Du würdest diese Mauer aus Sarkasmus und Zähheit ablegen. Könntest Du Dich durch meine Augen sehen, Du würdest Dich ausgesprochen mögen.

Vor mir liegen ein paar Karotten. Es sind mehr als fünf Stück, vielleicht sieben. Es könnten auch acht sein, es ist nicht ganz einfach abzuschätzen. Im Dämmerlicht meiner Küche wirken sie nicht orange, eher braun. Ich frage mich, ob sie süss sind oder bitter. Es sind verhältnismässig kleine Karotten, ich tippe daher auf süss…

Wo, zur Hölle

Wo, zur Hölle, soll ich beginnen? War das jetzt gerade nur eine Woche oder war das ein ganzes Jahr?

Gerade bin ich mit meinen supersuper Kopfhörern zu White Winter Hymnal in meiner Küche rumgehüpft. Meine Nachbarn von gegenüber, die im umgebauten Hotel wohnen, werden wohl gedacht haben…

Gestern hat mir Gotte Miau von Annie Clark erzählt. Annie Clark war eine Patientin in den 60er Jahren in einem Spital in London. Gotte Miau war noch jung und hat im Labor des Spitals gearbeitet. Annie Clark hatte Krebs und man konnte nichts mehr für sie tun. Deshalb hat man sie nach Hause geschickt, ihre Tochter war gerade hochschwanger und man dachte sich, dass sie besser die Zeit mit ihrer Tochter verbringt als im Spital. Man entliess Annie Clark mit dem Hinweis, dass sie in einem halben Jahr für einen Kontrolltermin wiederkommen solle. Man war sich sicher, dass sie diesen Kontrolltermin nicht wahrnehmen würde. Als der Tag gekommen war, überlegte sich Gotte Miau, ob sie die Laborkarte für Annie Clark überhaupt bereitlegen solle. Sie tat es, sie sagte sich, dass das Bereitlegen der Karte eine Form von Ehrerbietung sei, denn Annie Clark war sehr süss und nett. Zur besagten Zeit erschien Annie Clark pünktlich zum Termin. Gotte Miau sagte, dass sie noch nie und auch nie wieder in ihrem Leben solche schlechten Blutwerte gesehen hätte. Normalerweise sei man mit solchen Blutwerten tot. Annie Clark aber lebte, da es für sie selbstverständlich war den Kontrolltermin einzuhalten.

Und mir soll nun einer sagen, Einstellung würde keinen Einfluss haben. Ha!

Notfallmodus

All Drama must remain on the Stage

All Drama must remain on the Stage

Es ist schon verrückt, wie man den Notfallmodus in jeder Faser trägt. Hat man den einmal gelernt, ist der drin, den wird man nicht wieder los. Man bekommt eine Nachricht, blinzelt zwei Mal und dann fühlt man, wie sich etwas einrastert, wie der Schalter umgelegt wird und man ist drin und funktioniert. Man nimmt das Telefon zur Hand, macht diese Anrufe. „Ist es ok, wenn Du auf Abruf bist?“, „Könntest Du eventuell fahren?“, „Wir machen es so: Du gehst dahin, ich dorthin.“, „Ich übernehme das und du dafür das andere, ok?“. Und dann immer wieder zwischendurch das bange Warten, auf die Meldung, auf den hoffentlich erlösenden Anruf.

Man lässt alles stehen und liegen. Es ist nichts mehr wichtig. Was drei Minuten vorher noch von enormer Wichtigkeit war, ist fort. Einfach weggeblasen und in den kurzen Momenten des Harrens, ist man ganz verwundert, dass einem das gerade noch beschäftigt hat. Man versucht sich abzulenken und während man es versucht, fühlt man die Angst aufsteigen. Und flüstert gebetsmühlenartig vor sich hin. „Bitte, bitte, bitte, bitte nicht.“

Und dann: Entwarnung. Man möchte die Welt umarmen, jedem in die Arme fallen. Und ist gleichzeitig bis auf die Knochen erschöpft.

Cause there’s a million ways to go

Wie kann man Dankbarkeit ausdrücken? Gar nicht so einfach, denn die Worte des Dankes klingen schnell mal platt und abgedroschen. Wie soll ich Dich nennen? Schicksal? (Wohl eher nicht.) Zufall? (Viel eher, ja.) Ich habe Dich nicht erwartet, ich habe es nicht (mehr) erwartet. Wenn ich mir Dich vorstellen müsste, dann wärst Du ansehnlich und würdest mich mit Deinem Lachen in die Knie zwingen. Du wärst das Puzzle-Teil, das gefehlt hat, um etwas in mir zu reparieren. Du gäbest mir mit einem Blick, einer Bewegung, ein paar zugeneigten Worten Leichtigkeit zurück. Wie soll ich Dich nennen? Sehnsucht? (Ja, kommt hin.) Leidenschaft? (Sicher.) Wenn ich Dich denken müsste, dann hättest Du natürlich auch diese andere Seite. Die düster ist und nicht frei von Abgrund. Eine andere Seite, die Deine Grosszügigkeit und Freundlichkeit noch heller erscheinen lassen würde. Wie soll ich Dich nennen? Neugierde? (Bestimmt.) Glücksfall? (Oh, ja.) Kreative Kraft? (Genau.)

Egal wie ich Dich nenne, Sunshine, ich bin Dir unendlich dankbar. Für alles, was vergangen, für alles, was vielleicht kommen mag, für alles, was Du bist. Von Herzen: Danke!

Well, if you want to sing out, sing out
And if you want to be free, be free
‚Cause there’s a million things to be
You know that there are

That tomorrow would be as yesterday

Ich habe gerade die Dokumentation „Searching for Sugar Man“ gesehen. Eine fantastisch wahre Geschichte über den amerikanischen Musiker Sixto Rodriguez, der in den USA keinen Erfolg hatte, jedoch aber in Südafrika ein Superstar war – ohne es zu wissen. Hör Dir „Lifestyles“ an und achte auf den Text. Ich bin neu auch Rodriguez-Fan.

„Night rains tap at my window
Winds of my thoughts passing by
She laughed when I tried to tell her
Hello only ends in goodbye“
(Rodriguez: Lifestyles)

Diese Zeilen passen sehr gut zu einem Karfreitag, nicht wahr? Vor allem zu einem regnerischen Karfreitag, der ganz unwiederbringlich was von „Hello only ends in goodbye“ hat.

goodbye

Next Services 24,901.55 Miles

Next Service 370 km

Next Services 370 km

Boah. Das war eine echte Durststrecke.

Es kam mir vor, als wäre ich in den kanadischen Wäldern irgendwo auf einem Trampelpfad unterwegs und hätte jenes Bild nach wochenlangem Wandern entdeckt. Der Moment, wo alle Zuversicht aus dem Körper verschwindet. So lange man unwissend war, konnte man sich einreden, dass die Waldbeiz um die nächste Ecke auftauchen werde. Ganz bestimmt.

Meine Krankheit dauert ein Jahr.
Natürlich. Es ist schon fast wieder gut. Man sieht schon fast nichts mehr. Die Folgen werde ich aber – sagen die Ärzte – erst nächsten Frühling ganz überwunden haben. Wenn überhaupt.

Wenn man, wie ich, ein Mensch ist, der nicht gerade mit Geduld gesegnet ist und sich grundsätzlich für unverwundbar hält, ist das dann doch irgendwann ziemlich einschneidend.

Aber ja. Ich weiss. Ich jammere hier rum und sollte eigentlich glücklich sein. Denn: Es geht mir gut. Nicht mehr so gut wie früher, aber es geht mir gut.

Eugen hat sich letzte Woche an einem Bild über mich versucht: Er sagte, es komme ihm vor, als wäre ich eine Nomadin, die unter den Sesshaften aufgewachsen ist und darum ihre Nomaden-Identität stets ein Bisschen verschleiert, nicht immer dazu steht. Weil die Sesshaften Angst vor den Nomaden hätten – das liege in der Natur der Sache, alle Sesshaften haben immer Angst vor den Nomaden. Darum werden diese auch verteufelt. Und wenn er mich über mich selbst reden höre, komme es ihm vor, als hätte ich die Sichtweise der Sesshaften übernommen und versuchte diese auf mich zu übertragen, was natürlich nicht gelinge. Ich solle gefälligst anfangen, mich zu fragen, was zu mir gehöre und was einfach nur Adaption sei. Er wolle das ganze ja nicht romantisieren (was er natürlich trotzdem tat), er wolle einfach sagen, dass Nomade sein was Gutes sei und ganz schön cool.

Ich musste bizz lachen. Geholfen hat’s jedoch. Hier bin ich wieder.

Once upon a time

Broken Things

Broken Things

Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Mädchen, das mitten im Leben stand. Es war einmal. Manchmal kommt mir mein Leben vor, als wäre es vorbei. Ich sitze in der Küche – oder am Strassenhang – und bin wie neben mir. Ihr redet? Ich antworte nicht. Was für eine absolute, absurde Situation.

Vielleicht geht es um Ohnmacht. Vielleicht um Angst. Vielleicht um Bewegungslosigkeit. Vielleicht auch um viel profaneres. Langeweile? Mutlosigkeit? Vielleicht auch darum, nicht geliebt zu werden. Nicht geliebt und verstanden. Darum geht es immer. In allen Kriegen, in allen Ausweglosigkeiten.

Manchmal geschehen Dinge, die geschehen gar nicht. Aber weil sie in uns drin geschehen, geschehen sie irgendwie doch. Und wenn sie geschehen sind, ist es sehr schwer, sie ungeschehen zu machen. Das Problem ist dabei, dass es sehr schwierig ist, ihrer habhaft zu werden, da sie weder geschehen sind, noch nicht geschehen sind. Das ist dann irgendwann eine Glaubenssache.

Wo bin ich stehen geblieben? Leider nirgendwo.