Gestern bin ich an dein Sterbebett geeilt. Während ich eilte, habe ich versucht nicht darüber nachzudenken, Distanz zu gewinnen, in mich hinein zu hören. Als ich dann neben dir am Bett sass und du stöhntest und zu husten versuchtest und wütend warst und auch irgendwie erzürnt über die Schmerzen und das Leben, dass dir kein einfaches Ende beschert, habe ich versucht mir vorzustellen, wie es gewesen sein muss, du zu sein, wie du gelacht hast und gerannt bist und wie du Liebe gemacht hast. Es ist mir in gewissen Momenten gelungen, dich zu sehen, dich wahrzunehmen und Abstand zu gewinnen zu deinem jetzigen Nicht-Sein. Zwischen deinen Büchern habe ich ein Buch über das Warten gefunden, das ich gelesen habe, weil ich dachte, dass es passt. Im Nachhinein muss ich mir eingestehen, dass es nicht die beste Lektüre war. Ich hätte lieber Kriminalgeschichten gelesen, von denen du einige hast.
Dein Sterben für ein paar Stunden zu begleiten, hat mich traurig gemacht und dann, wenn du wütend warst und mich angeschnauzt hast, dann war die Trauer verflogen. Es war plötzlich normal. Sterben gehört zum Leben dazu, auch wenn wir – gerade wir – es auszublenden suchen. Dein Sterben hat mich auf mich selbst zurückgeworfen. Natürlich! Es sind immer die Fugenmomente, die Situationen am Rand des Daseins, die uns auf uns selbst zurückwerfen. Heftig und gnadenlos. Es hat mich müde gemacht, so sehr auf mir selbst zu kleben. Es hat mich erschöpft. Mein Schlaf war dann auch traumlos und kurz.
Viel zu früh bin ich erwacht, habe geflucht und den Schlaf trotzdem nicht mehr gefunden. Ich bin dann – ohne mein Pyschi auszuziehen – in meine Stiefel gestiegen, hab den Mantel umgeworfen, mir eine Flasche Wasser gefüllt und bin runter zum See. Da sass ich, hörte Musik und versuchte klarer zu werden. Der See war spiegelglatt, die Sonne ging hinter den Bergen auf, das Bild war von grandioser Schönheit. Mein Atem ging ruhiger und ich habe versucht eine Entscheidung zu treffen. Habe versucht die Ängste und Befürchtungen hinter mir zu lassen. Mein Leben beschert mir gerade ein Geschenk. Es liegt an mir, es anzunehmen. Und was, wenn du lange schon tot sein wirst, wenn ich in ein paar Jahren Blumen auf dein Grab lege und mich verfluchen werde für diese Vorwärtsbewegung? Was, wenn ich bereue? Was, wenn ich eines Tages zeternd zu sterben versuche und weiss, dass das alles nicht richtig war? Ja, dann… Ja, dann…
Egal was kommt, am Ende ist es so, dass wir hinter unserer Sehnsucht zurückgeblieben sein werden.
Traurigschön..