Zukunftsbild

Sie sitzt am Meer. Es ist ein kalter Wintertag im Dezember. Das Meer an der Küste von England ist ruhig und kalt. Es hat geschneit und eine feine Schneeschicht überzieht den Steinstrand. Sie ist warm eingepackt und liest. Dann blickt sie auf und der Horizont ist es, der sie an ihn erinnert. Seit drei Wochen ist dieser famose Ort nun ihre vorübergehende Heimat. Sie hat sich gut eingewöhnt und mag die Wintersee. Sie mag es, hier zu sein. Und sie mag es, ihn zu vermissen. Es sind die kleinen Zwischenräume, die das Vermissen ausmachen. Sie erinnert sich – während sie den Horizont anstarrt, als ob es in der Ferne etwas zu erkennen gäbe, als wäre da eine Nachricht, eine Zeile mitten in den Himmel geschrieben – gerne an die Monate zuvor. An sein Bett und an die schlaflosen Nächte, an sein Lachen und seinen kritischen Blick. Sie erinnert sich gern an seine unausgesprochene Zugeneigtheit und an seine Selbstverständlichkeit. In dieser Selbstverständlichkeit liegt viel Wärme. Wenn sie an die ersten Tage ihrer Bekanntschaft denkt, lächelt sie. Sie lächelt darüber, dass sie es anfangs Spiel genannt hatten und dass das Spiel selbst es war, das gewonnen hat, das sie überlistet hatte. Sie kramt ihr Handy aus der Tasche und schaut auf die Uhr. Bald fünf. In dreissig Minuten wird sie sich auf den Weg machen, um mit der Familie zu Abend zu essen. Die kleine Tara wird sie wieder löchern.
Wie ist er so?
Was tut er?
Was tut er gerade jetzt?
Welche Augenfarbe hat er?
Und die Haare?
Liebt er dich?
Bist du sicher?
Sie mag Tara. Sie mag ihre Fragen. Obwohl es immer wieder die selben sind. Seit einigen Wochen hat sie einen Schulschatz und ist unendlich neugierig. Und Tara scheint es zu mögen, dass sie jeweils zurückfragt. Es ist ihr tägliches Abendspiel, das dann irgendwann vom Vater unterbrochen wird.
Iss jetzt, Tara. Lass sie doch mal in Ruhe.
Dann schauen sich Tara und sie an, grinsen verschworen und widmen sich ihrem Teller.

Es wird langsam dunkel, der Horizont sinkt in die Dämmerung. Sie blinzelt und reibt sich die kalten Knie, macht ein Eselsohr ins Buch – sie mag keine Buchzeichen -, verstaut es in ihrer Tasche, zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch passt zum dunstigen Wintertag. Jetzt, gerade jetzt, würde sie ihm gerne gegenüber stehen auf seinem Balkon. Sie wie immer an die Wand gelehnt und er an die Brüstung. Sie würde ihn gern mit dem Blick ansehen, der sich automatisch einstellt, wenn sie zu ihm hinaufschaut, in seine grünen Augen. Sie würde gern geküsst werden, gern seine Nase betrachten, die mal gebrochen war und etwas schief ist.

Das Vermissen stellt sich immer ein, wenn es still ist und sich unaufgeregte Wintertage zu Ende neigen. Was er wohl macht? Gerade jetzt? Er wird im Büro von seinem Tisch aufstehen, vielleicht kurz aus dem Fenster sehen (sie weiss nicht, ob sein Büro Fenster hat oder Türen, ob einen Teppichboden oder Bilder an den Wänden), er wird für einen Augenblick ihren Geruch vermissen, ihren Mund, ihre Bewegung, die sie immer macht, kurz bevor sie sich zu ihm hinneigt, um ihn zu küssen.

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