Laufmasche

Es war der Weihnachtstag und sie hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, Geschenke einzupacken, sich zurechtzumachen, das Kleid auszusuchen, welches sie heute Abend wird tragen werden und der Vorspeise – eine Gemüseterrine – den letzten Schliff zu geben. Sie war nervös, denn sie wusste, dass er da sein würde. Er war der Mann ihrer Cousine und sie waren sich im Sommer das erste Mal begegnet. Es hatte harmlos begonnen, sie war schliesslich seit Jahren ungebunden und war sich der eine oder andere Flirt, auch mit verheirateten Männern, gewohnt. Ihre Cousine hatte sie dann gemeinsam zur Tankstelle geschickt, um Bier zu holen. Er hatte sie bei der Hand genommen, um sie über die Strasse zu ziehen. Es war eine einfache Geste, eine sehr kleine Geste, jedoch eine sehr vertraute. Dadurch hatte diese Geste etwas höllisch subversives, vereinbarendes, zementierendes, dass sie in dem Moment begriff, dass man sogar kleinste Gesten nicht mehr zurücknehmen kann, wenn sie in der Welt, dann leben sie ein Eigenleben. Auf dem Rückweg war ihr die Tüte mit dem Bier gerissen, sie lachten sehr, waren auch schon etwas angesäuselt, sie ging auf die Knie, er folgte ihr, beim aufstehen hielt sie sich an ihm fest und er küsste sie auf den Mund. Es war ein überraschend sanfter Kuss, sie hätte erwartet, dass er ungestümer küssen würde. Sie küssten sich lange und ihr wurde schwindelig. Sie setzten sich auf eine Parkbank und waren sprachlos. Sie redeten nicht. Auf dem Weg zurück wusste sie, dass das kein Ausrutscher war, keine schnelle Nummer, kein Fehler. Es war tiefer, würdevoller und vor allem sicher.

Ihren Gedanken nachhängend, setzte sie sich aufs Bett, streifte ein Strumpfhosenbein über ihren Fuss, betrachtete den schimmernden Stoff, die roten Nägel ihrer Füsse, die durch das feine Schwarz der Strumpfhose einen eigentümlich mysteriösen Charakter annahmen und streckte ihr Bein in die Luft. Sanft rollte sie die Nylons über ihre Waden, übers Knie, dann stand sie auf und rollte den Stoff – so vorsichtig es ihr nur möglich war – über ihre Oberschenkel nach oben. Sie hatte sich überlegt, ob sie halterlose Strümpfe wählen sollte, sie mochte die Vorstellung. Sie hatte die Idee aber verworfen, es war ein Weihnachtsfest und sogar ihr schien das etwas zu gewagt.

Zwei Tage später hatte er sie angerufen. Seine Stimme am Telefon klang fremd, kühl, distanziert. Sie dachte, er würde ihr sagen, dass er das nicht gewollt hat und ihr vorschlagen, es zu vergessen. Sie war erstaunt, dass er stattdessen ein Essen vorschlug. Nur sie zwei, um zu reden. Das war jetzt fast auf den Tag genau fünf Monate her und sie war einmal mehr erstaunt, dass sie kein schlechtes Gewissen hatte, dass sie reinen Herzens war. Es war grotesk und unendlich seltsam, aber es war da. Sie hatte es wegzuwischen versucht, sie hatte es auszulöschen versucht. Aber es war da.

Als sie in die Küche eilte, um die Gemüseterrine aus dem Kühlschrank zu holen, merkte sie nicht, wie eine kleine Unebenheit der Türschwelle eine Masche ihrer Strumpfhose beschädigte. Es war noch nicht sichtbar, aber es würde sichtbar werden und war unausweichlich. Die Masche würde sich einen Weg nach oben bahnen, würde über ihre Schenkel wandern und für alle sichtbar einen Makel darstellen, einen Fauxpas, den es – ab der Sekunde wo sie ihn feststellen werden wird – sofort zu beheben galt.

2 Gedanken zu “Laufmasche

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