Gestern war ich unvernünftig. Ich blieb lange auf, trank zu viel und fühlte die klamme Kälte nicht. Die Nacht war gut zu mir. Nach inspirierenden Begegnungen hab ich am nächsten Tag meistens Gedichtzeilen im Kopf. So wie anderen Leuten Lieder nachlaufen, laufen mir Worte nach. Heute wären es eben diese:
„… und das Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen wird entschwinden mit mir…“
(Seeräuber-Jenny aus „Die Dreigroschenoper“ von Bertold Brecht)
und
„The woods are lovely, dark, and deep.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.“
(„Stopping by Woods on a Snowy Evening“ by Robert Frost)
und
„Könnten doch Alle, alleallealle
Glücklich sein!
In allen Welten, zu allen Zeiten
Jahrtausend Universen lang
Könnten doch Alle
wie Nomaden wandern,
wandernwandern
immer weiterziehen“
(„Alles“ von Antonia Keinz)
Ich mische das also in meinem Kopf zusammen und bete es rhythmisch vor mich hin. Und da mir Schlaf fehlt und ich glücklich bin, werden es abenteuerliche Kombinationen. Ein Beispiel? Ein Beispiel:
The woods are lovely, dark, and deep
Könnten doch Alle, alleallealle
mit acht Segeln und fünfzig Kanonen entschwinden.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep.
Gestern sass ich in einer Bar. Sonntagabend. Gegenüber von uns sass ein Typ. Allein. Er trank ein kleines Bier. Langsam und stetig. Das Glas setzte er jeweils vorsichtig ab, als hätte er Angst, dass es in die Brüche gehen könnte. Seine grossen Hände umfassten es dabei fast ganz. Er war sehr breit und gross. Man würde ihn wohl „einen Schrank“ nennen. Sein Gesicht aber war das eines kleinen Jungen. Seine Haut bleich und eben. Seine Augen gross und unschuldig. Seine Haare verwuschelt. Alles in seinem Gesicht sagte: Ich will doch nur spielen. Er sass da, wechselte ab und zu ein Wort mit der Barkeeperin und blickte ansonsten interessiert und auch etwas ängstlich umher. Es kam mir vor, als hätte sich ein Kind in seine eigene Puppenstube gezaubert und sässe nun – zu gross und zu kräftig – ehrfürchtig da und warte darauf, dass irgendetwas geschehen möge. Hauptsache, es geschieht etwas. Hauptsache, es geschieht irgendetwas.
PS: „Vom Ende einer Geschichte“ von Julian Barnes ist übrigens wahnsinnig lesenswert. Kostprobe? Kostprobe:
“ … und versicherten uns gegenseitig, Grenzüberschreitung sei die oberste Pflicht der Fantasie.“
oder
„Das war so eine Angst, die uns quälte: dass es im Leben anders zugehen könnte als in der Literatur.“
oder
„Aber wenn man unter Nostalgie heftige Erinnerungen an intensive Gefühle versteht – und ein Bedauern darüber, dass solche Gefühle in unserem Leben nicht mehr vorkommen -, dann bekenne ich mich schuldig. “
etc.