Nervengift

Er trug seinen Anzug. Eigentlich aus einer Not heraus, er hätte lieber Jeans und ein Sakko getragen, hatte jedoch keine sauberen Jeans mehr zu Hause. Er trug also seinen Anzug und stand jetzt mit dem Schlüssel in der Hand vor dem Bürogebäude, nahm den letzten Zug von seiner Zigarette, warf sie auf den Boden und drückte sie mit der Schuhspitze aus. Eigentlich sah es die Empfangsdame gar nicht gern, wenn vor dem Bürogebäude geraucht wurde, geschweige denn, dass die Zigarette auf dem Boden landete, es war aber so früh morgens, dass noch niemand am Empfang war. Er fühlte sich rebellisch und seine schlechte Laune wurde etwas aufgehellt. Als er den Lift betrat, roch er das Parfum von Marion. Sie arbeitete in der Marketingabteilung, war weder besonders hübsch noch besonders intelligent, hatte jedoch diese ganz spezielle Form der sexuellen Attraktivität, die – wie er vermutete – Männer sofort wahrnehmen, Frauen jedoch nicht bemerken (nicht mal Marion selbst). Er überlegte sich im ersten Stock auszusteigen, um ein kurzes Gespräch mit Marion zu führen, ein Bisschen zu flirten. Er mochte es, wie überrascht sie jeweils war, dass er nett zu ihr war, es gab ihm Aufwind. Heute aber entschied er sich dagegen, er musste sich konzentrieren. Auf seiner Etage traf er auf Mark, der wie immer grauenhaft gut gelaunt war und natürlich wieder einen Schwatz halten wollte. Mit etwas zu gereiztem Unterton in der Stimme, schüttelte er ihn ab, betrat sein Büro und schloss die Tür. Er ärgerte sich kurz darüber nicht jovialer mit Typen wie Mark umgehen zu können, wischte aber auch diesen Gedanken weg und startete seinen Laptop.

Er hatte die Spinne nicht bemerkt, die jetzt langsam von der Lehne seines Bürostuhls auf sein Sakko stieg und nach oben zu seinem Nacken wanderte. Er bemerkte lediglich einen stechenden Schmerz im Nacken, als er mit der Hand reflexartig an seinen Hals griff. Die Spinne fiel auf den Boden, er stiess einen spitzen Schrei aus und sprang auf. Er sah wie die Spinne Richtung Plastikpflanze in der Ecke krabbelte. Sie war relativ klein. Er rieb sich den Hals. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! An einem Tag wie heute konnte er keine Ablenkungen brauchen. Er überlegte sich, ob er die Spinne verfolgen und töten sollte, er setzte sich aber wieder und starrte in seinen Laptop. Er hatte wirklich besseres zu tun gerade!

Das Gift griff das Nervensystem schnell an. Als er vom Stuhl fiel, schlug er sich den Kopf an der Tischkante an und blutete. Er lag über eine Stunde bewusstlos in seinem Büro, bis er gefunden wurde. Marion würde später auf der Beerdigung zu Mark sagen, sie hätte sich noch kurz überlegt bei ihm im Büro vorbeizuschauen, Gott sei Dank hätte sie das nicht getan! Wie die tödliche Trichternetzspinne in sein Büro gekommen war, konnte nie ermittelt werden.

2 Gedanken zu “Nervengift

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