Ich habe keine Angst, das ist nicht meine Art

Was ich hätte schreiben wollen:

Draussen hat sich der Abend über die Landschaft gelegt und ihr die Farbe genommen. Der Zug, der bis nach Hamburg weiterfahren wird, zeigt auf Bildschirmen die Geschwindigkeit an. 143 km/h. Eine Familie im Abteil neben ihr hat die Wanderschuhe ausgezogen, es riecht nach nassen Socken und ein bisschen nach Sex.

Sie hat den Tag in Chur verbracht, es war seltsam neblig und das obwohl ihr versichert wurde, dass man in Chur keinen Nebel kennt. Der Nebel ist in ihren Kopf gekrochen und hat sich über die Gedanken gelegt.

Sie ist verkatert, die letzte Nacht war lang und wenn sie darüber nachdenkt, bringt sie die Bilder nicht mehr ganz mit dem Gefühl in Einklang.

Der Zug hat in Sargans gehalten, der Bahnhof lag seltsam verlassen da, ein Paar mit Skiern stieg streitend zu.

Sie erhält eine Nachricht von jemandem, an den sie sich kaum erinnert, er scheint angetan von ihr und sie fragt sich, was sie zu ihm gesagt hat. Wahrscheinlich einer ihrer Übersprungsmomente, der seltsame Blüten treibt und eigentlich immer ein kleines, verliebtes Monster gebiert. Sie fragt sich, wie es wäre, wenn sie das steuern könnte. Wenn sie fähig wäre, die Energie zu bündeln und zu kanalisieren. Wenn die Energie nicht immer willkürlich und mit voller Kraft auf irgendjemanden treffen würde. Wenn sie das so kontrollieren könnte und die Energie auf jemanden richten könnte, bei dem es ihr wichtig wäre. Und die Quelle nicht immer des wichtigen Menschen Abwesenheit wäre.

Der Zug hat jetzt den Zürichsee erreicht, die Lichter spiegeln sich im Wasser, dieser Anblick hat schon als Kind Glück in ihr ausgelöst. Heute lichtet sich der Nebel nur kurz, bis er sich wieder in ihrem Kopf ausbreitet, den Hals hinuntersinkt und ihr Herz befällt.

Wo bist du, Weltfrieden, wenn man dich braucht?

Sie setzt sich die Kopfhörer auf und blickt über den schwarzen, kalten See mitten in den Abgrund hinein.

Was ich stattdessen schrieb:

„Man darf im Leben nicht zu intelligent sein. Wenn Sie zu intelligent sind, wenn Sie zu viel nachdenken…“ (Rückkehr nach Birkenau von Ginette Kolinka)

Ich lese das Buch „Rückkehr nach Birkenau“ auf dem Weg zur und von der Arbeit. Es ist sehr dicht, sehr eindringlich. Um nicht zu sagen absolut niederschmetternd. Das nackte Grauen in kleinen, dichten Sätzen. Es hat nur 124 Seiten, die Sprache ist leicht und sehr schön. Man kommt aber nur langsam vorwärts. Nach ein paar Sätzen, füllen sich die Augen mit Wasser – unmöglich weiterzulesen. Man blickt auf und sieht sich die Menschen an. Die da mit einem in der Strassenbahn sitzen oder draussen vorbeigehen. Der Kontrast ist so überwältigend, man würde sich nicht wundern, wenn die Zeit abrupt stehen bleiben würde. Man verlangt sogar danach! Wie kann es sein, dass sich alle nicht wenigstens in Zeitlupe bewegen? Wie kann es sein, dass diese Welt, in der ich leben darf, so absolut atemberaubend schön ist? Warum ich? Dieses Glück habe ich nicht verdient. Dieses Glück ist reiner Zufall und wer weiss, wie lange dieser Zufall noch andauernd wird. Ich möchte alles in mir aufsaugen, dass ich davon zehren kann. Möchte es festhalten, möchte jede einzelne Sekunde geniessen.

Ich lese also, ich weine also zwischen all den Menschen und in mir wächst die Dankbarkeit und die Zuversicht. Als ich erneut aufblicke, sieht mich ein Mann – er wirkt jung und irgendwie gefährlich – durch die Tramscheibe an. Ich blicke zurück, fürchte mich, senke den Blick, hebe ihn wieder und lächle. Ich will gar nicht lächeln, es überkommt mich einfach. Ich lächle und das Lächeln wird zum Lachen. Er schaut mich verwundert an und schenkt mir dann ein umwerfendes Lachen zurück. Mir verschlägt es kurz den Atem ab dieser Geste, ab der Schönheit dieses Augenblicks. Die Tram fährt, ich stehe still.

„Ich habe keine Angst, das ist nicht meine Art.“

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