No, you still don’t like to leave

Heute war ein schwieriger Tag. In der Nacht hat mich eine echt fiese Variante des Alptraums heimgesucht, der mich seit ich denken kann begleitet. Das Gefühl danach ist hässlich. Und verfolgt mich meist den ganzen Tag. Zudem war ich etwas psychokatrig von der letzten Woche. Keine gute Kombination.

Ich habe am Morgen also gemalt und meinen schwermütigen Gedanken nachgehangen. Dann wurde ich an den Pfäffikersee kutschiert, hatte während der Fahrt ein gutes, aber schwieriges Gespräch, was auch noch seinen Teil zur verzwickten Stimmung beitrug. Zuletzt dann noch eine Nachricht im Postfach, die ich nicht einordnen konnte und die sich verklausuliert angefühlt hat. Dann – als ich alleine war und mir die wunderbarste Frühlingssonne ins Gesicht schien – hab ich mich dagegen entschieden. Ich habe einen tiefen Atemzug genommen, hörbar ausgeatmet und hab mich für Heiterkeit entschieden. Manchmal muss man Dinge hinter sich lassen. Einfach aufhören. Einfach loslassen.

Später dann bin ich auf den Lindenhof rauf, hab über die Stadt geblickt, hab diese innere Wärme aufsteigen fühlen. Meine Füsse haben zur Musik gewippt und ich fühlte wie sich ein Grinsen über meinem Gesicht ausbreitet. Ich habe mir vorgestellt, wie ich bald mit jemandem hier oben ein interessantes Gespräch führen werde. Ich hatte keine bestimmte Person vor Augen. Es war mehr so ein Gefühl der Zuversicht, dass irgendjemand gern mit mir auf dem Lindenhof sitzen wird und wir ein angeregtes Gespräch führen werden. So eins, wo man lacht und ein bisschen streitet und dann gedankenverloren über die von der Abendsonne beschienene Stadt blickt und sagt „Du hast natürlich Recht. Wie immer hast Du Recht.“. Und der andere ein Geräusch der belustigten Zustimmung von sich gibt und seine Augen ebenfalls über die Stadt streifen lässt im Wissen, dass das ein guter Abend ist.

Hasenviech - ohne Humor

No, you still don’t like to leave, before the end of the show

 

Versuch einer Ode an Gazelle

Am Freitagabend, als ich sehr erschöpft von einer sehr anstrengenden Arbeitswoche Richtung Opernhaus ging, um dort das grandiose Ballett „Bella Figura“ anzuschauen, roch ich ihn das erste Mal, den Frühling. Ich weiss, es ist bloss ein Vorbote, es wird nochmal kalt werden, doch das, was diese Tage riechbar ist, dieses Auftauen des Bodens, diese etwas wärmere Luft, löst in mir ein Gefühl von Aufbruch, Glück und unfassbarer Zuversicht aus. Und auch etwas, was sich wie Verlangen nach Wanderlust, sehnsüchtiges Innehalten, furchtvolles Vertrauen anfühlt. Als ob ich ein Schiff besteigen würde, welches mich quer über den Atlantik führen wird, worauf ich seit Jahren hingearbeitet habe, jetzt aber, da ich die blanken Bretter hoch zum Schiff beschreite, fühle ich plötzlich eine innere Zerrissenheit, als ob ich wieder umdrehen wollen würde, nach Hause gehen, auch wenn es das zu Hause längst nicht mehr gibt.

Seit ein paar Tagen versuche ich mich in Worten über „Gazelle“. Gazelle ist ein Mensch, den ich vor ein paar Monaten besser kennenlernte, der mich fasziniert, da er was ganz sonderbares an sich hat. Es will mir nicht ganz gelingen, da Gazelle in einer sehr eigentümlichen Weise nicht ganz fassbar ist. Er ist einer dieser Menschen, der beim Gegenüber innert kürzester Zeit grosses Wohlbefinden, noch grössere Nähe und viel Vertrauen auslöst. Es passiert also, dass man Gazelle beim ersten Treffen bereits sein Leben ausbreitet, wie man eine Landkarte auf dem Tisch ausbreitet. Ohne Bewusstsein darüber, dass man Gazelle ja gar nicht kennt. Man könnte ihn mit einer Art Raubtier vergleichen, dessen Waffe aber ein Gift ist, ein irisierender Nebel, der beim Opfer das Gefühl von Wohlgefallen und Behagen auslöst. Gazelle kann einem also den Hals umdrehen und man würde dabei glücklich lächeln.

Wer bist Du? Warum tust Du, was Du tust? Weshalb umfasst du mich so sehr mit Freundlichkeit und Nähe, wenn doch Dein Wunsch ist, mich auf Distanz zu halten? Wenn Du doch willst, dass Dir niemand zu nahe kommt, wenn Du doch in Wirklichkeit kein Interesse an Vertrautheit hast? Als ob Du sagen wollen würdest, „Du kannst Dich gerne vollständig vor mir ausziehen, ich aber meinerseits ziehe noch eine Regenjacke über all meine Schichten an, das ist meine Form der Blösse“.

Ich versuche immer mal wieder den Nebel wegzuwischen und dahinter zu blicken. Wer bist Du? Warum tust Du, was Du tust? In den seltenen Momenten, in denen mir das gelingt, sehe ich noch viel seltsameres. Verlorenheit, Stärke, Macht, Beherrschtheit, Durchsetzungskraft, Schmerz, kindlicher Lebenshunger, trainierte Seelenruhe, stoisches Selbstbewusstsein gepaart mit einer glühenden, zerstörerischen und liebreizenden Verletzlichkeit, die ich so noch nie gesehen habe. Das erste Mal, als ich all dies einen kurzen Augenblick wahrnehmen durfte, war ich mich nicht mehr sicher, ob ich Gazelle mag. Es war einigermassen bedrohlich und es hat mich (natürlich) sehr neugierig gemacht. Wer bist Du? Warum tust Du, was Du tust? Jetzt, da ich mich daran gewöhnt habe, ab und zu hinter den Vorhang zu blicken, weiss ich, dass ich Gazelle mag, dass es aber auch fragil ist, dass es wohl noch tausend Schichten gibt, die ich nicht sehe, nicht kenne, vielleicht auch nie kennenlernen werde, dass ich mich auf Überraschungen gefasst machen muss. Gazelle macht es mir also nicht einfach, er wird sogar etwas kratzbürstig, wenn er merkt, dass man versucht mehr über ihn zu erfahren. Um so ungewöhnlicher, dass Gazelle es zulässt, dass ich versuchen darf, ihn kennenzulernen.

Wer bist Du? Warum tust Du, was Du tust? Dazwischen aber – und dies bringt Gazelle ihren Namen ein – diese tänzelnde Fröhlichkeit, diese grazile Verspieltheit, dieses ansteckende Lachen, diese charmante Leichtigkeit, diese ehrliche Zugeneigtheit, diese komplizenhafte Zartheit.
Ja, ich mag Gazelle, ich mag Gazelle sehr.

So viel Hölle, so viel Paradies

Oskar Kokoschka: Pieta

Oskar Kokoschka: Pietà (Plakat für die internationale Kunstschau Wien, 1909)

Niemals zuvor habe ich so viel Krampf, so viel Hölle, so viel Paradies gekostet.“ (Alma Mahler über ihre Beziehung zu Oskar Kokoschka)

Heute war ich im Kunsthaus Zürich und habe mir die Ausstellung zu Oskar Kokoschka angesehen. Zum Glück war ich früh da. Als ich ging, enterten gerade riesige Menschengruppen den Eingangsbereich, schupsten sich, stiessen sich Regenschirme in die Kniebeugen, riefen laut, schimpften und muteten ganz grässlich an. Ein weiterer Vorteil, wenn man zu den Frühaufstehern gehört (was ich ja seit neustem tue). Die Ausstellung selbst aber war sehr sehenswert. Mit sechzehn Jahren hatte ich meine erste Begegnung mit den Gemälden von Kokoschka im Rahmen der Ausstellung „Entartet“ in Berlin gehabt. Eine Ausstellung über die verfolgten Künstler des zweiten Weltkriegs, deren Kunst vom Nazi-Regime als „Entartete Kunst“ bezeichnet wurde. Es war also auch ein Wiedersehen nach langer Zeit. Kokoschka und ich.

Es hatte auch ein Nachbildung der lebensgrossen Puppe, die Kokoschka nach dem Vorbild von Alma Mahler anfertigen liess, da sie ihn verlassen hatte. Nachdem er die Puppe hunderte Male gezeichnet hatte, sie überall hin mitnahm, sogar ins Café, fand sie ein fulminantes Ende.
Oskar Kokoschka: „Endlich habe ich mich entschlossen, sie zu vernichten. Die Puppe hatte mir die Leidenschaft gänzlich ausgetrieben. Ich machte also ein großes Champagner-Fest mit Kammermusik, während dessen mein Kammermädchen Hulda die Puppe mit all ihren schönen Kleidern zum letzten Mal vorführte. Als der Morgen graute – ich war wie alle anderen sehr betrunken – habe ich im Garten der Puppe den Kopf abgehackt und eine Flasche Rotwein darüber zerschlagen. Am nächsten Tag schauten ein paar Polizisten zufällig durch das Gartentor, erblickten wie sie meinten den blut überströmten Körper einer nackten Frau, und stürzten in der Verdächtigung eines Liebesmordes ins Haus hinein. Genau genommen war es das auch, denn an jenem Abend hab ich die Alma ermordet…

Auch ein Weg der Bewältigung, nicht wahr? Da sind Badana und ich gerade harmlos, die das Bildnis von verflossene Liebhabern am Strand von Odessa begraben oder aber in die Alster werfen.

Spiegelneuronen, spiegelneurotisch

Pfaeffikersee

Der Pfäffikersee heute

Sie sah sich im Spiegel an. Ihre hellbraunen Augen waren etwas gläsern, sie glänzten seltsam. Die Lippen waren rot – röter als normal – kam sie doch gerade von draussen aus der Kälte. Sie hatte lange in der Kälte gestanden, ihre Nase, Finger und Füsse waren noch immer kalt. Sie schaute sich nicht oft eingehend im Spiegel an. Sie hatte noch nie den Zugang zu diesen Eigenschaften gehabt, die man gemeinhin Frauen zuschrieb. Sie empfand ihr Äusseres als anstrengend. Sie betrachtete ihre Nasolabialfalten – sie kannte das Wort einzig und allein daher, dass ihre Arbeitskollegin diese hatte aufspritzen lassen und die letzten Wochen darüber geredet hatte. Die Linke war ausgeprägter als die rechte. Das lag am Unfall, den sie vor ein paar Jahren gehabt hatte. Sie sah die Veränderung, die seit daher ihr Gesicht heimgesucht hatte, noch immer gut. Alle anderen Menschen sahen es nicht. Ihre Nase war an den Flügeln etwas gerötet, die Wangen rosig, als hätte sie Sport getrieben. Ihre Haut war relativ ebenmässig, sie hatte noch nie grosse Hautprobleme gehabt, noch nicht mal als Teenager. Sie rümpfte ihre zu kurz geratene Kartoffelnase (wie ihre Grossmutter zu sagen pflegte), legte den Kopf schief, kräuselte die Stirn und fragte sich, ob sie wohl von einem Fremden noch knapp in die Kategorie „hübsch“ eingestuft werden würde oder eher in die Kategorie „normal“. (Oder vielleicht doch in „speziell“?) Sie konnte es beim besten Willen nicht beurteilen. „Wie seltsam!“, dachte sie sich, löschte das Licht und ging zu Bett.

Ihr Spiegelbild betrachtete sie, wie sie sich in die Augen sah. Die kurzen Momente, wo es etwas zu tun hatte, genoss es heimlich sehr. Es wusste, dass es nicht für’s Geniessen oder für die eigene Befriedigung jedweder Art da war. Es war ein Spiegelbild und ein Spiegelbild spiegelte, e basta. Es wunderte sich zeitweise darüber, dass es diese Form von Bewusstsein hatte, ihm war klar, dass das nicht normal war. Eigentlich aber war es ihm egal, was der Grund dafür war, es freute sich einfach ob der Zerstreuung. Es hätte nicht damit gerechnet, dass so spät Abends noch etwas passieren würde, sie war jedoch ins Bad gekommen, hatte das Licht angemacht und sich vor den Spiegel gestellt. Sowas tat sie sonst nie! Und nun betrachtete sie sich schon eine ganze Weile. Die Augen wanderten von Augen über Nase zum Mund und wieder zurück. Das Spiegelbild spiegelte zuverlässig, war aber ganz nervös. Was wohl der Grund für dieses intensive Betrachten war? Das Spiegelbild sah jeweils nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Leben, es hatte also keine Ahnung. Es mochte nun auch keine Vermutungen anstellen, es gab sich ganz und gar seiner Aufgabe hin. Und wieder bemerkte es, wie schön ihre Augen waren. Seit dem Unfall war das linke Auge etwas weniger ausdrucksstark wie früher, was das Spiegelbild sehr wohl bemerkte, es fand jedoch die Augen nach wie vor sehr besonders. Sie sah irgendwie süss aus, lebendig und – das Spiegelbild suchte nach einem geeigneten Wort – vital. Es war einmal mehr sehr zufrieden, dass es gerade hier seiner Aufgabe nachgehen durfte. Ein letzter Blick und dann löschte sie das Licht. Das Spiegelbild verschwand seufzend in der Dunkelheit.

Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht.

Gestern war ich im Casinotheater Winterthur den grossartigen „Bundesordner“ schauen. Das lohnt sich jedes Jahr, nicht nur wegen Jess. Wer also noch nicht da war, soll unbedingt hin. Hopphopp!

Wir waren danach noch in einer Spelunke, wo der kauzige Wirt italienischen Schlager spielen liess. Ein schöner Abend.

Auf dem Heimweg hab ich mich durch den Regen gekämpft, das war ziemlich garstig. Was für ein Glück, trage ich doch gerade Sonne im Herzen. Oder um Fanta 4 zu zitieren „Mein Lebensweg, Baby, sehnt sich nach Regen“.

Jetzt sitze ich in Seebubs altem Haus im leeren Wohnzimmer und schaue auf den im Dunst liegenden See. Draussen peitscht der Wind den Regen gegen das Fenster, unten fährt ein Zug vorbei, die kleine Steinskulptur auf dem Fenstersims blickt gedankenverloren. Mich friert, ich lege meine Füsse auf die Heizung, schiebe meine kalten Hände unter meine Oberschenkel und dann breitet sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Wie Sonnenlicht durch Wolken bricht.“

Steinskulptur

Dufte!

Meine Nase hat mich schon in Teufels Küche gebracht. In meiner Familie ist der Geruchsinn äusserst ausgeprägt, beziehungsweise wir werden von Klein auf darauf aufmerksam gemacht, in gewisser Weise geschult. Ich rieche wer vor mir in einem Raum war, wessen Pullover das ist, der liegen geblieben ist, wer gestern Alkohol getrunken hat. Ich musste eine Arbeitskollegin auch schon bitten, ihr Parfum zu wechseln, weil mir das ihrige den Magen umdrehte. (In dem Fall war es Glück, dass die meisten Menschen, was die Wahl ihres Dufts anbelangt, nicht gerade wählerisch sind. Was mir unverständlich ist. So Aussagen wie: „Ich hab einige Parfums und nehme am Morgen einfach eins“, lösen in mir jeweils ein inneres, hysterisches Kichern aus.)

Es gibt Gerüche, die verbinde ich unweigerlich mit bestimmten Orten, Zeiten und Gefühlen. Da ist der Duft des Oliven-Duschmittels, das ich in England benutzte. Ich verbinde diesen mit Kälte, Abenteuer und grosser innerer Ambivalenz. Der Geruch von Rohbeton (wie er in Neubauten vorkommt), in dem ich baden könnte, so sehr liebe ich den. Oder wenn die Sonne im Sommer die Wohnung aufheizt und das Holz des Parkettbodens nach Geborgenheit und Fröhlichkeit riecht, könnte ich die Welt umarmen.

Vor ein paar Tagen waren wir zu Gast bei einer Familie. Im Entrée hat die Hausherrin so Duft-Räucherstäbchen platziert. Meine Jacke riecht seit da danach und der Geruch überträgt sich auf meinen Pullover, wenn ich die Jacke getragen habe und ich finde das ganz unerträglich. Aber ich krieg den irgendwie nicht raus. Wahrscheinlich muss ich die Jacke verbrennen.

Ein Arbeitskollege von mir, er ist süsse 22 oder 23 Jahre alt, trägt immer, wenn er in den 8. Stock geht, um dort Abklärungen zu tätigen, ein Schokoladenparfum auf. Wie immer bei solchen Parfums riecht es nicht wirklich nach Schokolade (weil es nicht möglich scheint einen Duft zu kreieren, der nach echter Schokolade riecht), sondern nach dem allgemein gültigen Abbild von Schokolade, das uns beigebracht wurde. Wie es in Joghurts oder ähnlichem vorkommt. Wir wissen, es soll Schokolade darstellen, wissen aber eigentlich genau, dass es definitiv keine Schokolade ist. (Erdbeere ist auch so ein Fall. Einfach grauslig dieser künstliche Erdbeergeruch.) Er trägt also dieses Abziehbildchen von Parfum auf und geht in den 8. Stock. Ich habe ihn gefragt, wer denn diese Dame sei, die er betören wolle. Er hat mich angesehen, als sei ich ein Geist. Woher ich denn das wisse? Dazu muss man sagen, dass es ziemlich clever ist von ihm und ich so viel Geruchs-Verstand selten bei Menschen antreffe. Wenn man es aber einmal durchschaut hat, ist es natürlich auch sehr, sehr vorhersehbar und somit auch ein wenig langweilig. Aber ganz süss!

Hunderttausend Düfte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die anderen ordnen mußten. Er war die reine Schönheit.“ (Patrick Süskind: Das Parfum)

Der Autor ist tot, lang lebe der Autor

(Prolog) Es hat Überwindung gekostet und grosse Mühe. Denn ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wie kann ich meinem früheren Ich, der früheren Autorin jemals gerecht werden? Habe ich das Recht, hier etwas zu schreiben? Würde die Autorin es mir erlauben? Ich weiss, dass die Autorin herzlich war und offen. Ich weiss, dass sie wohl verständnisvoll mit mir gewesen wäre. Da sie aber nicht mehr da ist, werde ich sie nicht fragen können, nicht mit ihr reden können. Mein heutiges, lahmendes, kümmerliches Ich wird auf sich allein gestellt sein. Es fühlt sich an, als wäre über Jahre ein Rohr verstopft gewesen. Und plötzlich fliesst das Wasser wieder. Es ist erstaunlich, erst wenn man zurückkehrt, erkennt man, wie sehr man alles vermisst hat. Wie sehr, wie sehr, wie sehr. Verdammt, ich habe grosses Glück, dass meine Krankheit endlich ihre Klauen gelockert hat. Deshalb, lieber Leser, übe Nachsicht. Ich bin noch wacklig auf den Beinen. Aber ich bin aufgetaucht aus der Flut. 

Am Freitag hab ich getanzt. Ich hatte ein Dauergrinsen auf dem Gesicht und habe mir die Seele aus dem Leib getanzt. Die Herzen sind mir zugeflogen, ich konnte es kaum fassen. Ein Mädchen, welches ich nur vom Sehen kenne, hat mir die schönste Liebeserklärung des Abends gemacht: Mein Glück sei spürbar, ich sei schön, jedoch nicht bloss äusserlich schön, es sei was Tiefes, Gerechtes und Süsses in mir, was sichtbar wird und sich auf meinem Gesicht auszubreiten scheint. Ein wahrhaft schönes Kompliment, welches dem Schatten, dem Spiegelbild in der Pfütze gilt.

Plötzlich wieder zu fühlen, plötzlich wieder Zugriff zur eigenen Kreativität zu haben, ist wahnsinnig schön, jedoch trifft es einen wie ein Schlag. Und da kommt auch die Trauer hoch über die verpassten Gelegenheiten und die Erinnerung an all die Menschen, von denen man sich nicht verabschiedet hat, die man nicht um Verzeihung gebeten hat, all die Momente, die verblasst, getrennt wie durch dünnes Papier, dahinvegetierten.

Aufgetaucht aus der Flut.

Als schiene sich Glück zu vervielfältigen, als würde sich aus sich selbst eine ganze versunkene Welt auftun, als hätte man die Lawine losgetreten und man fragt sich, warum man keinen Zugang dazu hatte, woher denn das alles jetzt kommen mag und dann hört man sich auf zu fragen und ist bis auf die Knochen, bis ins Mark, bis zum Mond und zurück, scheisse nochmal glücklich.

Sonntags im Büro

Bed of Books

Bed of Books

Am Sonntag im Büro träumt man sich in andere Welten, möchte gerne überall lieber sein. Man träumt sich ins Bett zurück wo Träume wahr werden – lesend, denkend. Man träumt sich an einen Ort, der möglichst weit von sich selbst entfernt ist, weil das Selbst gerade Zähne zeigt und zu eng ist, wie Hosen, die nicht mehr passen, weil man sich über Monate von Osterhasen aus Schokolade ernährt hat, sich selbst belügend, es werde wohl keine Konsequenzen haben.

Wenn ich könnte, würde ich gerne eine Reise machen nach Argentinien. Zum Beispiel. In Buenos Aires direkt vom Flughafen in die „El Ateneo Grand Splendid“ fahren, dort Stunden verbringen, immer wieder zur Decke blicken und beim Anblick der Engel lächeln.

El Ateneo Grand Splendid in Buenos Aires

El Ateneo Grand Splendid in Buenos Aires

Wenn ich könnte, würde ich gern Ferien von mir selbst nehmen. Mich kurz verlassen. So, wie man Pflanzen bei einer Woche Urlaub zu Hause lässt, ihnen genügend Wasser gibt, die Läden zur Hälfte schliesst, dass sie nicht zu sehr der Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind und mit dem Wissen, dass sie noch genau so da sein werden, wenn man wiederkommt.

Sonntags ist das Büro ein Ort, wo Träume wahr werden können, weil sie Raum haben, sich zu entfalten, weil sie die Luft einnehmen und singend – einem Echo gleich – den Klang wieder- und wiedergeben. Sonntags aber ist das Büro auch ein Ort, wo man mit seinen Träumen das Zeitliche segnet, weil die Wirklichkeit keinen Platz hat, sich zu festigen und so tatsächlich obsolet wird.

I’m not here right now.

„You ask me what life is? It is like asking what a carrot is. A carrot is a carrot, and nothing more is known.“
(Chekhov in einem Brief an Olga.)
Gerade aus sich selbst verreist.

Gerade aus sich selbst verreist.

Ich befinde mich ja seit einigen Tagen auf der Insel. Ferien. Ganz allein. Und das für vier lange Wochen. Es ist schon eigentümlich, wenn man so ganz auf sich selbst gestellt ist, was man da alles macht und denkt. Ich geniesse es. Lustigerweise hab ich mich noch keine Sekunde allein gefühlt. Auf der anderen Seite, bin ich irgendwie auch froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Es fühlt sich wie Heimweh an. Vielleicht ist das so, wenn man sich in ein Abenteuer stürzt, wenn man etwas wagt und dabei unglaublich viel lernt – das macht auch müde und man weiss plötzlich wie viel Glück man hat, ein zu Hause zu haben, in das man gerne zurückkehrt, Freunde zu haben, die man von der ersten Sekunde an schmerzlich vermisst.

Hier auf der Insel ist es wahnsinnig kalt. Alle um mich herum sagen immer:
Aber bei dir, in deiner Heimat, ist es doch auch kalt, du müsstest dir das doch gewohnt sein!
Die Kälte hier aber ist eine ganz andere. Und vor allem: Das mit der Isolation in den Häusern haben sie also echt nicht im Griff. Man kann heizen so viel man will, die Räume werden nicht warm. So schlafe ich also jede Nacht mit Wollmütze. Nun gut, gschäch nüt schlimmers.
Es ist kurios, die ersten paar Tage, wenn alles neu ist und man niemanden kennt, dann fühlt es sich an, als wäre man in eine Waschmaschine geraten, die gerade schleudert. Man kann nichts anderes tun, als einfach mitzumachen und nicht zu sehr dagegen halten zu wollen. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann daran und hat sich und die Umgebung etwas mehr im Griff.
„The sea has neither meaning nor pity.“ (Nochmal Chekhov)