Ich werde winken

Gestern schenkte mir Zeko eine Büchse mit Zitaten drin – für ein ganzes Jahr, jeden Tag eines. Gestern förderte die Büchse folgendes Zitat für mich zu Tage: „Irgendwann erfindet jeder Mensch eine Geschichte die er sein Leben nennt.“ (Mark Twain) Ich fand das sehr passend und zudem ein sehr schönes Zitat. So habe auch ich meine Geschichte erfunden und schmücke sie jedes Mal aufs Neue aus. Langeweile gebiert eben die farbigsten Tiere.

Heute dieses: „Abschiedsworte müssen kurz sein wie Liebeserklärungen.“ (Theodor Fontane)

In diesem Sinne: Tschüssikowski.

Jahrtausend Universen lang

Gestern hab ich mal was „Normales“ gemacht. Es wurde Zeit endlich mal etwas zu tun, das ganz normale Leute so tun an einem Montagabend. Ich ging also ins Kino. (Meine Arbeitskollegen bestätigten mir, dass es sich bei einem Kinobesuch um eine normale Freizeitaktivität handelt. Ausser man hat Kinder, dann geht man auch nicht mehr ins Kino, sagte man mir.) Wir schauten den Film „Der Verdingbub„. Der Film hat mir gut gefallen. Obwohl ich danach schon ziemlich traurig war. Damit die Traurigkeit einigermassen verflog, schauten wir zu Hause auch gleich noch eine DVD. Nämlich „Poem„. Als ich diesen Film damals im Kino sah, verschlug er mir die Sprache. Ein Wahnsinns Film. Eigentlich sind es ja kleine Kurzfilme, die bildnerisch Gedichte untermalen.

Heute Morgen dann im Stadtbus Winterthur geschah folgendes: Ich wollte zuvorderst neben dem Fahrer in den Bus einsteigen. Die Tür ging zu, rammte meine Schultern und klemmte mich ein. Vor Schreck habe ich zum Busfahrer „Oh, Entschuldigung!“ gesagt. Der Busfahrer wandte seinen Kopf in Zeitlupentempo träge in meine Richtung, sah mit milchigen Augen durch mich hindurch, drückte in aller Ruhe den „Türe auf!“-Knopf und wandte sich wieder nach vorne, ohne ein Wort, ohne mit den Wimpern zu zucken.
Da ich nicht Auto fahre, habe ich bis jetzt alle meine Reisen – und das waren nicht wenige – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bestritten. Und egal in welchen öffentlichen Verkehrsmitteln der Welt, ob in Zürich, Berlin, London, Barcelona, Zagreb, in der Karibik, in Montreal, ja sogar in den halsbrecherischen Marshutkas in der Ukraine, hab ich niemals so unhöfliche, missmutige und unpünktliche Fahrer erlebt wie in Winterthur. Ich fahre nun seit bald fünf Jahren jeden Tag Bus hier. Und es ist Horror. Manchmal denke ich, dass die irgendwie ein Team-Problem haben. Irgendwas ist da faul. Das Management gibt immer mal wieder verzweifelt Neuerungen raus (im Moment: „In Stosszeiten fahren die Busse im 5-Minuten-Takt!“), doch die dringen irgendwie nie ganz zur Basis. Sie geben sich Mühe, ja. Aber irgendwie ist da der Wurm drin. Vielleicht sollten die alle Mal miteinander in den Wald gehen und Bäume umarmen. Würde helfen.

Ich sass also dann mit schmerzender Schulter verschreckt im Bus und erinnerte mich an ein Gedicht aus eben diesem Film (Poem). Dieses Gedicht hätte ich dem Busfahrer am liebsten ins Gesicht geschrien. Es geht so:

Alles

Könnten doch alle wie Nomaden wandern

Könnten doch alle wie Nomaden wandern

Weite im Kopf
Im Herzen Welten
Die Füsse auf der Erde
Will ich in die Wolken

Mein Unglück
unbeständig wie das Glück

Werfen möchte ich mich in diesen Wandel
Tanzen und reiten im Augenblick

Könnten doch Alle, alleallealle
Glücklich sein!
In allen Welten, zu allen Zeiten
Jahrtausend Universen lang

Könnten doch Alle
wie Nomaden wandern,
wandernwandern
immer weiterziehen

Vogel werden
Himmel sein
Schwimmend ein Meer
frei und offen für Jeden

(Antonia Keinz)

Mein Leben als Zombie

So in etwa seh ich aus

So in etwa seh ich aus

Wenn man sich nicht ganz wohl fühlt in seiner Haut und weiss, dass irgendwie gerade ganz übel was schief läuft, man aber keinen blassen Schimmer hat, was genau, ständig irgendwie nervös und gleichzeitig todmüde ist, einem beim Gedanken an Sachen, die man dringend erledigen müsste kotzübel wird und man am liebsten in ein dunkles, kühles Loch liegen und die Augen gaaaaaaaaaaaaanz lange nicht mehr öffnen möchte, dann weiss man mit Sicherheit, man lebt sein Leben gerade als Zombie.

Das Leben als Zombie manifestiert sich vor allem darin, dass man nichts fühlt. Man fühlt überhaupt rein gar nichts. Man schläft kaum, rennt von Termin zu Termin, funktioniert wie eine perfekt getimte Maschine und in jedem unbeobachteten Moment stellt das Hirn subito auf Standby und man starrt geistesabwesend arme Mitmenschen an.

Mein Leben als Zombie ist eine Qual. Gerne möchte ich hinstehen und sagen: Ich kann nicht mehr.
Das geht aber leider nicht. Das einzige was bleibt, ist, langsam aber sicher darauf hinarbeiten, dass die Wangen wieder rot werden und die Freude zurückkehrt. Schritt für Schritt den Raum zurückzugewinnen.

„Don’t you know what’s goin‘ on out there? This is no Sunday School picnic!“
(Ben aus „Night of the Living Dead“)

Ich bin so jung, und die Welt ist so alt.

Otto Dix: Flanders

Otto Dix: Flanders

Otto Dix – einer meiner Lieblingsmaler – hat mal gesagt: „Der Maler ist das Auge der Welt.“ Wenn man seine Bilder betrachtet, die oft vom ersten Weltkrieg handeln, dann wird das Entsetzen plötzlich greifbar. Ganz ohne Worte. Wie da die Landschaft unter dem Kriegsächzen erwacht! Wie die Würmer über Leichen herfallen! Man kann das Grauen förmlich riechen.

Dinge mit ein paar Pinselstrichen zu erzählen, ist eine grosse Gabe, finde ich, die ich keine Begabung für Malerei habe. Einmal stand ich vor einem Gemälde von Klee und empfand plötzlich eine tiefe Trostlosigkeit. Es war ein sehr blaues Gemälde, das Fische unter Wasser darstellte. Die Tiefe und Unergründlichkeit, das dieses Gemälde ausstrahlte, riss in mir einen Abgrund auf. Ganz selten passiert es, dass mich Kunst so ergriffen macht, dass mir die Tränen kommen. Ich stand also da vor diesem Gemälde von Klee und weinte. Mitten im Museum.

Paul Klee: Fische

Paul Klee: Fische

Mit 16 Jahren passierte mir das das erste Mal. In Berlin in der Ausstellung „Entartete Kunst“ – eine Ausstellung über die Maler, die im 2. Weltkrieg als „entartet“ galten. Ich war eine Woche lang in Berlin und besuchte diese Ausstellung jeden Tag. Und jeden Tag sah ich mir dieses Gemälde von Schmidt-Rotluff an. Da war ein Weg, am Ende des Weges ein Haus und über allem stand ein Mond. Ich starrte und starrte und starrte. Sieben Tage lang. Und da wurde mir klar, dass diese Ausdrucksform grossartig ist. Dass Kunst immer berühren muss (egal ob negativ oder positiv). Es kann etwas noch so kunstvoll oder genial sein, löst es keine Emotionen aus, ist es für die Katz. Kunst ist immer körperlich. Höre ich Musik und die Melodie löst in mir einen körperlichen „Hüpfer“ aus, der in den Schläfen beginnt, einem Schauer ähnlich über das Gesicht in die Brustgegend läuft, dann im Magen endet und zum Schluss Tränen in die Augen treibt, weiss ich, dass mich die Melodie für immer berühren wird.
Und genau so gibt es Gemälde, Sätze in der Literatur oder aber Momente im Theater, etc. die diese Reaktion auslösen. Im Grunde könnte man sagen: Mich schaudert – es ist gut.

„Ich bin so jung, und die Welt ist so alt.“
(Leonce in Leonce und Lena von Georg Büchner)

Lieber Gott, viel Spass!

Also ich süsse zwanzig war und im Diogenes Verlag in der Pressestelle arbeitete, nahm ich unter anderem auch Anrufe entgegen. Eines schönen Tages hatte ich einen Herrvonbülow am Apparat, der eine sehr angenehme Stimme hatte. Einige peinliche Missverständnisse später klärte er mich auf, dass er Loriot sei. Ich wär am liebsten in den Boden versunken. Er aber hat sein Kopfschütteln hinter Schmunzeln und Höflichkeit verborgen. Und heute nicht mehr als dies:

Eines meiner Lieblingsbilder von Loriot

Eines meiner Lieblingsbilder von Loriot

Sommerabend

Die Sonne brennt. Der Asphalt liegt heiß und leergefegt da. Ein paar Menschen lassen sich die Aare herunter treiben. Wir sehen oben von der Brücke zu, wie ihre Köpfe aus dem Blickfeld verschwinden. Der Verkehr rauscht und du blickst mich kurz von der Seite an mit diesen Augen, die größer und undurchdringlicher wirken als eben die Aare oder der Rhein. Keine Ahnung, woher du kommst oder wohin du gehst und ob du den Radwechsel mit Ungeduld betrachten magst. Keine Ahnung. Ich aber betrachte in diesem Augenblick, der eine Ewigkeit und eine Stunde dauern möge, mein Leben mit Geduld. Oder wie du so schön sagtest: „Ich bin gleichmütig und bescheiden. Und ich verachte Bescheidenheit.“

Sich im Fahrstuhl davonträumen.

„Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint.“ (Friedrich Hebbel)

Im fallenden Fahrstuhl herrscht keine Schwere.

Im fallenden Fahrstuhl herrscht keine Schwere.

Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich meinen Job gekündigt hätte und es war mein letzter Arbeitstag. Ich sass in einer seltsamen Halle (hat mich an den wirklichen Eingangsbereich meiner Firma erinnert – mit der Ausnahme, dass alles spiegelverkehrt angeordnet, grösser und düsterer war) an meinem Schreibtisch und wollte partout nicht zusammenpacken. Auch hatte ich vergessen eine Tasche mitzunehmen, um meine persönlichen Sachen darin zu verstauen. Meine Mitarbeiterin wollte, dass ich noch den Telefonbeantworter bespreche (die Spezialansage mit dem Hut – keine Ahnung, wie ich darauf komme) und ich dachte mir: „Ja, warum nicht. Das ist dann wohl eine Art Vermächtnis.“ Unser CEO kam und verabschiedete sich von mir. Er umarmte mich heftig, man merkte, dass er sehr traurig über meinen Abgang war. Und er sagte immer wieder, dass ich unbedingt zurückkommen solle. Mir zerriss es das Herz, da ich eigentlich gar nicht gehen wollte. Ich hab mich immer wieder gefragt warum – zum Teufel – ich eigentlich gekündigt habe. Dann verabschiedete ich mich – es war inzwischen 17 Uhr und eigentlich hätte ich um 15 Uhr gehen wollen – von meinen Kollegen. Die meisten waren in Sitzungen und ich winkte ihnen kurz zu. Einer meiner Kollegen traf ich im Flur und er sagte: „Immerhin können wir uns jetzt im Lift treffen.“ Ich verstand nicht, was er damit meinte. Ich schaute ihn verständnislos an. Er präzisierte: „Wir können uns im Lift treffen, jetzt wo wir nicht mehr zusammenarbeiten, ist das möglich. Das Problem ist aber, das ich bis jetzt noch keinen Lift gefunden habe, der mir gefällt.“

Ein einigermassen seltsamer Traum, der in mir ein Gefühl von Verlust aber auch von starker Zuneigung hinterlassen hat. Elias Canetti hat mal geschrieben: „Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.“ Darum werde ich mich aufmachen und einen Lift suchen, der schön und gemütlich ist. Vielleicht mit kuschligem Teppich und guter Fahrstuhlmusik.

Spieglein, Spieglein an der Wand

Es wird Frühling! Jedes Jahr wird irgendwann Frühling und doch bin ich jedes Jahr wieder fassungslos und aufgeregt. Welch schöne Jahreszeit!

Dieses Wochenende habe ich mit Hagi über Makel geredet. Hagi hat einen Schneidezahn, der ein Bisschen vorsteht. Nur ein ganz klein wenig. Und manchmal bleibt die Oberlippe daran hängen. Meine erste grosse Liebe hatte das auch – nur viel extremer. Seine Eltern haben seine Zahnstellung nicht korrigieren lassen (im Gegensatz zu seinen Schwestern, bei denen die Zahnstellung korrigiert wurde – sie sind ja schliesslich Mädchen, die müssen gut aussehen). Er hat ziemlich gelitten unter diesem Makel. Einerseits kann man sich darüber empören, dass die Eltern es unterlassen haben, diesen Makel zu entfernen – wo es doch so einfach möglich gewesen wäre. Andererseits finde ich es beängstigend, dass immer mehr solcher körperlicher Unzulänglichkeiten verschwinden. Man sieht heute kaum noch jemand, mit krummen Zähnen. Irgendwann sehen wir vielleicht auch niemanden mehr mit einer krummen Nase. Oder mit abstehenden Ohren, mit zu kleinen / grossen Brüsten oder mit X-Beinen. Irgendwann sehen wir alle gleich aus. Vielleicht haben wir noch unterschiedliche Haarfarben oder Körpergrössen – dies aber auch nur in einem gewissen Rahmen. Dabei sind es doch diese Makel, die jemanden besonders machen. Wie die Oberlippe von Hagi, die zuweilen am Zahn hängen bleibt. Das fällt beim ersten Blick nicht weiter auf. Lernt man jemanden aber kennen und schätzen, lächelt man innerlich über diese Kleinigkeiten und ist froh.

„Man spricht von einem Spiegel, der duldet keinen Rost.“ (Ludwig Bechstein)