Alle müden Äffli

Am Mittwoch hatten wir Sommerevent mit der Firma. Den Nachmittag verbrachten wir im Klettergarten. Zuerst fürchtete ich mich vor der Höhe und der wacklige Untergrund machte mir Angst. Dann aber stellte sich Vertrauen ein und ich hatte Spaß. So richtig Spaß. Die Aussicht direkt auf den Rheinfall war bezaubernd und meine Klettergruppe noch viel bezaubernder. Wir machten immer wieder Pause auf den Plattformen, schwatzten, genossen die Sonne, die luftige Höhe. Der ganze Tag war zwar anstrengend aber auch herrlich leuchtend. Schön war auch, dass ich merkte, wie sehr mir die körperliche Anspannung fehlt und dass ich dringend wieder mehr Sport machen möchte. Heute früh ging ich also joggen und der Zürichsee ist einfach die beste Kulisse, ich mag den Blick aufs Wasser und den Horizont.

Jetzt aber sind alle Äffli müde und ein Bisschen erschöpf und sehnen sich nach Nichts-tun. Alle müden Äffli halten heute noch durch und lassen dann die Seele baumeln. Es muss ja nicht immer der höchste Turm sein. Hab ich Recht, Igor? Natürlich hab ich Recht.

Dodirni Mi Kolena

Es ist gut zu wissen, dass man ein Herz hat und Gefühle und auch Traurigkeit. Es ist gut zu wissen, dass man Freunde hat, mit denen man um einen Tisch sitzen kann. Es ist gut zu wissen, dass man lebt und atmet und hustet. Die Dinge verbringen Zeit und ich verlasse mich dabei. Rutschen wir nicht alle manchmal auf den Knien und flehen einen imaginären Gott an, er möge uns verzeihen? Absolution gibt es nicht. Für nichts. Und dann blick ich auf den See und weiss, dass alles gut wird.

Die Kälte hat uns eingeholt. Es war eben noch dreissig Grad warm und jetzt, jetzt ist es kalt. Ich höre eine sehr seltsame Techno-Version von „Dodirni mi kolena“ und find das grad gut. Es ist gut zu wissen, dass man Dinge, die einem nie im Leben gefallen würden, gerade gut finden kann.

Hej na sveze mleko mirise dan
ptice pevaju na sav glas
jutro njise vetar, dodirni mi kolena
to bih bas volela

Und die Tage, die riechen wirklich nach frischer Milch. Wenn ich mir das vorstelle, möchte ich lachen. Auf dass du noch oft meine Knie berühren magst, dass es nie vorbei geht, dass sich daraus die schnellste, längste und schönste Ewigkeit ergibt.

Meine Küchenuhr zeigt zehn nach zwei und die Kirchenuhr schlägt die volle Stunde. Wie lange kann man sein Herz offen tragen, ohne daran zu verzweifeln? Wie intensiv kann man sein Leben leben, ohne daran zu zerbrechen? Wie sehr kann man die Welt in sich aufsaugen, ohne alles zerstören zu wollen? Alles was ich weiss und was mir bleibt ist Folgendes:

Im Takt der Stunde fällt Schnee auf Grau.

Ich habe mich gefangen und gleichermassen befreit.

Ich seh mich, wie ich gehe, damals, als ich unglücklich war.

Und daneben stehe ich, jetzt, da ich glücklich bin

und hebe die Hand zum Gruss.

Scheu lächle ich und sehe, wie der Schnee auf Asphalt schmilzt.

Wenn ich du wäre, würde ich leben wollen –

schreie ich mir hinterher.

Ich aber bin längst um die Ecke gebracht.

In der Nase Theater spielen

Eigentlich hab ich ja gar keine Zeit. Eigentlich müsste ich ja duschen und so. Aber ich sitz in meiner Küche, etwas erschlagen vom Tag und den Tagen zuvor und plötzlich lach ich laut raus, pruste über den leeren Küchentisch. Ich hab mich gerade daran erinnert, dass Izzie – als wir in Riga in einem Restaurant sassen – sagte, der Typ hinter ihr rieche wie ihre erste Liebe, sie werde sozusagen gerade in der Nase entjungfert. Wir haben sehr gelacht und das Bild ist mir gerade wieder eingefallen. Vielleicht fiel es mir ein, weil ich heute im Büro (ich war für ein paar Stunden da, weil mein Chef eine Erziehungsmassnahme an mir ausprobierte und ich ihn dafür strafte, in dem ich zum Trotz hinging, womit er eigentlich gar nicht gerechnet hatte) die ganze Zeit über den Duft von einem Arbeitskollegen in der Nase hatte. Menschen die ich mag riechen immer gut (die Frage ist, ob sie gut riechen, weil ich sie mag oder ob ich sie mag, weil sie gut riechen) und manchmal nimmt man den Geruch besonders gut wahr, vielleicht wegen der Hitze oder vielleicht auch wegen anderen Verstrickungen, die ab und zu im Kopf Theater spielen. Wie auch immer. Ich hab in der Folge also über meinen Geruchsinn nachgedacht, der nachgewiesenermassen ziemlich gut ist. Zum Beispiel passiert es mir oft, dass ich die Ankunft eines Menschen zuerst mit der Nase wahrnehme.
Der Geruch geht direkt ins Hirn, da gibt es keine Filter wie zum Beispiel bei den Augen oder Ohren. Zack. Mitten in der Mitte. Und die Gefühle sind da, als wären sie Pan, der mit seiner Plötzlichkeit regelmässig seine armen Mitspieler zu Tode erschreckte. Wenn ich zum Beispiel bei Zeko alleine auf dem Sofa sitze – was in letzter Zeit doch ab und zu mal vorkommt – hüllt mich sein Geruch voll und ganz ein, einer Umarmung gleich. Das ist schön und ein schönes Beispiel für einen ausgeprägten Geruchsinn. Es gibt natürlich auch andere Beispiele. Zum Beispiel S12 fahren im Sommer und das Gefühl haben, man sässe in einem Openair-Dixie-Klo.

Mit sehr viel Wasserspühlung

Am 1. August sass ich ziemlich unverhofft auf einem Sofa und trank türkischen Kaffee und Schnaps. Zuvor war ich sehr herzlich empfangen worden – ich bin mir das nicht gewohnt. Aber ich mag es, ich mag es sehr.

Eine Woche zuvor war ich mit meinen zwei WG-Hasis durch Rigas Gassen gestrauchelt. Welch schöne Stadt! Nach einem kurzen Abstecher in einen paradiesischen Garten im Tessin nun also wieder Alltag, der sich momentan so überhaupt nicht nach Alltag anfühlt. Mir kommen Dinge abhanden in dem Masse, wie ich andere Dinge dazugewinne. Und die Geschwindigkeit in der das geschieht, macht mich schwindeln. Leben auf der Achterbahn.

„Sie hören weit, Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen mordern.
Die Erde ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspühlung.“ (Erich Kästner)

Zwischen dem ganzen Atmen und Zähneputzen und Fernhören blicke ich mich im Spiegel an und erkenne mich nicht wieder.

Unter Huflattich begraben

Gestern war ein sehr seltsamer Tag. Einerseits mein letzter Arbeitstag vor meinen Ferien – was immer auch grossen Stress und viel Organisationsaufwand bedeutet – andererseits war ich seltsam durchlässig, empfindlich. Das gemeine daran, wenn man durchlässig ist, ist, dass die Menschen um einen rum das irgendwie riechen und immer noch einen oben drauf geben. Da hab ich zum Beispiel einem Freund gesagt (der gerade sehr traurig war, weil etwas Schlimmes passiert war): „Soll ich zu Dir kommen? Brauchst Du mich?“ Worauf er antwortete: „Darauf hab ich – ehrlich gesagt – keine Lust.“ Dieses schnöde „keine Lust“ hat mich verletzt. Weil meine Frage ein Freundschaftsangebot war, eines, das ich im vollen Bewusstsein drum, dass es sein könnte, dass er davon Gebrauch macht und ich um elf Uhr abends trotz unglaublicher Müdigkeit und eben Durchlässigkeit eine Stunde mit dem Zug zu ihm fahren müsste, gemacht habe. Nun. Von diesen Situationen gab es gestern einige. Mein Chef zum Beispiel liess mich beispiellos im Regen stehen, was mich dazu brachte mein Vertrauen in Frage zu stellen, mehr noch, fast an eine Verschwörung zu glauben.

Als ich dann heute Morgen aufgewacht bin, noch immer müde im Bett lag und über die Ereignisse des gestrigen Tages nachdachte, da empfand ich Scham und Ekel. Dann aber, als ich am Bellevue aus der Strassenbahn stieg und Badana auf der anderen Strassenseite stehen sah, mit ihren Kopfhörern auf und ihren schönen Lippen und den Locken und ich zu ihr rüber winkte und auf sie zu hüpfte, da hab ich all die Dinge und schlechten Gefühle weggewischt, „achwas!“ gesagt und „duspinnstdoch!“ und „zumglückhastduferien!“ und war in dieser reinen und unaufgeregten Form glücklich, die so viel schöner ist, als das aufgeregte Glück.

Ach ja. Gestern Abend war ich noch bei Gilg – sein Haus anschauen. Er lebt auf einem Hügel im Wald. Wir sind spazieren gegangen und haben Walderdbeeren gepflückt und dann lagen wir in der Wiese rum. Das war der einzige Moment gestern, in dem ich mich komisch wohl fühlte und den ganzen Mist gedanklich unter Huflattich und Sauerampfer begrub.

Geht tapfer unter

Ich lebe in verschiedenen Welten.
Montags, da geht die eine auf,
die andere geht tapfer unter.

Bei mir im Büro hat es viele von diesen Familienmenschen. Solche, die sich nach Langeweile sehnen und nach einem Quentchen Ruh. (Und hin und wieder eifersüchtig auf mein Leben schielen.) Manchmal, wenn ich mitten in meinem Wochenende stehe, gefüllt mit Rauch und lauter Musik, möchte ich sagen: Wisst ihr eigentlich wie schwer das ist? Dieses „mit den Hüften drehen“, dieses Getränk in meiner Hand? Wisst ihr, wie schwer es ist, die Lächerlichkeit auszuhalten, immer und immer auf 25 geschätzt zu werden und das seit Jahren? Wisst ihr, wie sich die Entzauberung anfühlt? „Ah, du findest mich cool? Ist das so? Du willst mich jetzt also küssen? Aber nicht etwa mit Zunge? Nein, ich komme nie mit dir ins Mascotte und auch nicht zu einem Fussballspiel. Nein, ich schmeisse keinen Trip mit dir und nein, ich heirate nicht.“

Ich lebe in verschiedenen Welten.
Montags, da geht die eine auf,
die andere geht tapfer unter.

Jeden Abend tausend Leben und in jedem tausend Möglichkeiten. Und zu jedem einzelnen sag ich nein. Manchmal bin ich müde, manchmal sehn ich mich nach Langeweile und einem Quentchen Ruh.

Ich lebe in verschiedenen Welten.
Montags, da geht die eine auf,
die andere geht tapfer unter.

Und so

„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Nietzsche)

Ich bewege mich auf der Grenzlinie. Gefährlich nah an der anderen Seite. Manchmal frag ich mich, wie lange es dauern wird, bis ich abrutsche. Und manchmal hoffe ich auf das Glück – allem besseren Wissen nach – eben nicht abzurutschen. Die Hoffnung stirbt zu Letzt und so. Wie oft muss man sich spiegeln, um das Spiegelbild nicht mehr als sein eigenes zu erkennen? Es gibt nichts schöneres, als sich selbst aufzugeben. Leicht zu sein. Zu verduften. Und wo könnte man besser verduften als in den Augen anderer? Ja, ich bin ambivalent. Ja, ich fühle oft erst im Nachhinein. Und ja, verdammt, es fällt mir leicht, mich in anderen einzufinden. Das heisst noch lange nicht, dass ich nicht irgendwo da bin. Tief in mir drin. Ich bin vorhanden. Nur nicht immer greifbar. Aber vielleicht ist gerade dieses glatte, nicht greifbare, das, was ich wirklich bin. Ich bin ein Fisch. Und kann nur inständig hoffen, nicht zum Köder zu werden für einen grossen Fisch. Oder eben abzurutschen. Abzugleiten. Zu fallen. Und wenn doch, dann hoffe ich, dass es sich um einen Abgrund ähnlich dem Kaninchenbau bei Alice im Wunderland handelt. Unten geht die Welt auf. Mit 66 Jahren fängt das Leben an. Und so.

Bekenntnis

Sitze in der S-Bahn, habe bis jetzt gearbeitet. Höre ein Lied, das mich an Knutschen hinter einem Selecta-Automaten erinnert. Und mich befällt – wie es wohl den meisten sehr fröhlichen Menschen eigen ist – eine plötzliche, tiefe Traurigkeit. Die Traurigkeit reicht ins Unermessliche. Ist bodenlos und schließt alles und jeden mit ein. Hab ich nicht schon alles erlebt? Was möchte ich denn noch? Was hält mich hier? Alles. Und jetzt gerade nichts.
Später werde ich noch in unsere zweite Heimat gehen und versuchen die Traurigkeit abzuschütteln. Und ich weiss, dass es bedingt funktionieren wird. Ich wede mit allem, was ich habe hingehen und mit nichts zurückkehren. Ich denke über das letzte Jahrzehnt nach. Wodurch zeichnet es sich aus? Ich bekenne, ich habe überlebt.

Kunstkulturschock

Diese Woche war ich an der Neueröffnung der Galerie Hauptmann und Kampa. Finde es immer wieder faszinierend, dass ich so frisch-naiv an solche Orte gehe und nicht auf die Idee komme, dass ich da Unmengen von Leuten treffen werde, die ich kenne. Irgendwie hab ich kein Bild von mir als jemand, der in der Kulturszene unterwegs ist. Und dann steh ich da und denke: „Üh. Krass.“ Und muss mich mit Verlagsleitern und Buchhändlern und Künstlern und Journis unterhalten. Nicht, dass das schlimm wäre. Dieser Schlag Mensch ist beileibe nicht der übelste und in der Regel auch ein guter Gesprächspartner. Es dauert nur eine Kulturschocksekunde lang, bis ich mich eingefunden habe. Zum Glück hatte ich mit Badana und Krish zwei gute Begleiter, die mir ein Heimatgefühl gegeben haben. Irgendwann hab ich dann – nach einem hoch-hoch-hochprozentigen, seltsamen Gurkendrink, gemixt von einem Kronenhallen-Barkeeper höchstpersönlich – zwei Typen kennengelernt. Der eine – nennen wir ihn Jean – war schon etwas in die Jahre gekommen, sehr gut angezogen und hatte eine Hasenschartennarbe. Jean hielt nicht damit hinter dem Berg, dass er reich ist und zeigte mir dann auch die Karikatur, die er soeben erworben hatte. Jean lästerte zusammen mit seinem Journalisten-Freund über die anwesenden Gäste und ich war neugierig, was sie wohl über mich sagen, denn ich war eine der wenigen, die nicht aufgebretzelt war. In Jeans und Kaputzenjäckchen wollte ich nicht so recht ins Publikum passen. Als mir Jean dann eine hochpathetische Liebeserklärung machte (anscheinend funktioniert diese Masche in der Regel), fragte ich mich, wann ich genau zu einer Frau geworden war, die für ältere Herren mit Geld interessant ist.
Alles in allem ein heiterer Abend – ich hab mich köstlich amüsiert.

Ein Weltmeer, das uns trennt.

„Wenn es um die Universalausgabe einer Liebsten ging und jede einzelne Liebste nur eine Sonderform der universellen darstellte, würde jede beliebige von ihnen ihren Zweck erfüllen und könnte eine andere ersetzen, wie es unser moralisch unzulängliches Wesen gebot. Und falls das stimmte, wie konnte ich dann je dazu erzogen werden, irgendwen ein Leben lang zu lieben?“ (E.L. Doctorow: Homer & Langley)

Mein Leben ist schön. Und bleibt spannend. In meinem Horoskop steht: „Lass dich aus deinen vier Wänden locken. Du verpasst sonst ein Abenteuer – und eine Bekanntschaft, die dein Leben radikal verändert.“ Und wer will schon eine radikale Bekanntschaft, die ein Abenteuer darstellt, verpassen? Niemand. So geh ich heute ans m4music und lass mir das Glück in den Schoss fallen. Oder aber ich pflücke Beeren.

Gestern hatten wir einen Anlass. Da sass ich nun in der hintersten Reihe und das Licht schien durch die Fenster und liess den Raum sehr weiss erscheinen. Vor mir sass jemand und ich sah mir seinen Nacken an. Es war ein schöner Nacken und ich liess meine Gedanken treiben. Ich hätte ihn gern berührt. Meinen Arm ausgestreckt und mit den Fingern kurz über seinen Hinterkopf gestrichen. Im Licht sahen die Haare sehr blond und weich aus. Natürlich durfte ich das nicht tun. Ich überlegte mir, dass sehr viel Distanz zwischen uns herrscht. Distanz lässt sich am besten in Geographie darstellen. Es war, als würde zwischen meiner Hand und ihm ein Weltmeer liegen. Mehr noch: Ein Weltmeer und ein ganzer Landstrich. Ein Dschungel, ein undurchdringliches Felsengebiet. Und auch dorthin würde man einfacher gelangen.
Dann aber drehte er sich zu mir um, lächelte, ich streckte meine Hand aus und fuhr mit meinen Fingern über seinen Nacken. Ich hatte Recht, die Haut fühlte sich weich an.